Zwischen Stammestraditionen und Globalisierung

Belutschistan ist die flächenmäßig größte und zugleich am wenigsten entwickelte Provinz Pakistans. Seit einiger Zeit gibt es vermehrt Anschläge von Separatistengruppen. Was steckt dahinter? Eine Analyse von Mohammad Luqman

Von Mohammad Luqman

Fast unbemerkt von der internationalen Presse wurden vor einigen Wochen in der südwestlichen Provinz Belutschistan zwei koordinierte Angriffe auf Militärposten der pakistanischen Armee verübt. Eine belutschische Separatistengruppe übernahm kurze Zeit später die Verantwortung für die Angriffe. Was Beobachter überraschte, waren die gute Bewaffnung und das militärische Knowhow, mit dem die Angreifer vorgingen. Obgleich seit vielen Jahren verschiedene bewaffnete Gruppen gegen die pakistanische Zentralregierung kämpfen, bedeuten diese Angriffe eine neue Qualität.

Belutschistan ist die flächenmäßig größte und zugleich bevölkerungsärmste Provinz Pakistans. Der Norden der Provinz mit seiner Hauptstadt Quetta ist überwiegend von Paschtunen bewohnt und weitaus besser entwickelt als der Süden. Die unzugänglichen Berge und Wüsten von Belutschistan sind die Heimat belutschischer Stämme, die seit Jahrhunderten nach eigenen Traditionen leben. Noch heute gilt das Wort der Stammesführer, der Sardars, mehr als die Regeln der staatlichen Autorität. Sie herrschen wie Feudalherren über ihre Stammesangehörige. Interne Konflikte werden bisweilen mit dem archaischen Stammesrecht, das Riwadsch oder Baloch Mayar, gelöst.

In der Kooperation mit dem Staat wird den Sardars ihre althergebrachte Rolle überlassen. Zudem erhalten sie royalties (Zuwendungen) aus dem Rohstoffabbau in ihren Gebieten. Diese Art von indirect rule (indirekter Herrschaft) ist ein Überbleibsel aus der britischen Kolonialzeit. Belutschistan wurde erst 1870, also relativ spät in das Gebiet Britisch-Indiens einverleibt. Für die Kontrolle einer so unwegsamen Region war man auf die Sardars angewiesen, die im Gegenzug für ihre Loyalität eine relative Autonomie in ihren Stammesangelegenheiten erhielten. Nach der Unabhängigkeit übernahm der neue Staat Pakistan diese kolonialen Strukturen.

Bis zur endgültigen Teilung Indiens hatte Kalaat, das größte belutschische Fürstentum, zunächst vor einem Anschluss an Pakistan gezögert. Erst nach zähen Verhandlungen lenkte der Fürst ein, was jedoch zum Streit innerhalb seiner Familie führte. Der Bruder des Khans versuchte vergeblich einen bewaffneten Aufstand gegen die Entscheidung.

Armut prägt das Leben der Menschen in Belutschistan; Foto: Tasnim
Ein Leben in Armut: Nach über 70 Jahren Unabhängigkeit ist Belutschistan immer noch wenig entwickelt. Fehlende Infrastruktur, ein mangelhaftes Bildungs- und Gesundheitswesen und das Gefühl von Marginalisierung sorgen für großen Unmut in der Bevölkerung. Von den Einnahmen aus dem Rohstoffabbau profitieren vor allem multinationale Unternehmen, die Sardars, (Stammesführer) oder die Zentralregierung. Der überwiegende Teil der Bewohner lebt weiterhin in Armut.

Eine vernachlässigte Region

Nach über 70 Jahren Unabhängigkeit ist Belutschistan immer noch wenig entwickelt. Fehlende Infrastruktur, ein mangelhaftes Bildungs- und Gesundheitswesen und das Gefühl von Marginalisierung sorgen für großen Unmut in der Bevölkerung. Von den Einnahmen aus dem Abbau von Rohstoffen wie etwa Kupfer und Gold profitieren vor allem multinationale Unternehmen, die Sardars oder die Zentralregierung. Der überwiegende Teil der Bewohner lebt weiterhin in Armut.

Vor diesem Hintergrund gab es schon früher Rufe nach mehr Rechten und Autonomie für die Provinz. Vereinzelte Gruppen hatten bereits vor der Jahrtausendwende zu den Waffen gegriffen, aber in den frühen 2000er Jahren eskalierte der Konflikt mit der Zentralregierung erheblich. Der Grund dafür lag in der Rebellion eines prominenten Sardars, dem Politiker und Ex-Gouverneur Belutschistans Nawab Akbar Khan Bugti, gegen die Militärregierung von Pervez Musharraf. In der darauf folgenden Militäroffensive durch Islamabad wurde der beliebte 79-jährige Stammesführer in seinem Versteck in den Bergen getötet.

Der Tod von Bugti verschärfte die Lage. In Jahren nach 2000 sind weitere bewaffnete Gruppen entstanden, die aus ihren Bergverstecken heraus Anschläge auf die Armee verübten. Die Regierung reagierte mit weiteren repressiven Maßnahmen. Immer öfter verschwanden Regierungskritiker und politische Aktivisten auf mysteriöse Weise oder ihre Leichen tauchten unter ungeklärten Umständen wieder auf. Die Bevölkerung zeigte schnell auf die Sicherheitskräfte. Bis heute bleibt die Frage nach dem Schicksal vermisster Personen eines der zentralsten Probleme in der Provinz.

Das pakistanische Establishment warf den Regierungen Afghanistans und Indiens vor, den Separatisten Unterschlupf und Unterstützung zu gewährleisten, damit diese Pakistan destabilisieren könnten. Tatsächlich hatten sich nach den Offensiven des pakistanischen Militärs einige Rebellen nach Afghanistan abgesetzt oder Indien um Unterstützung gebeten. Mit der Machtübernahme der Taliban hat die Aktivität belutschischer Separatisten zugenommen, die Afghanistan weiterhin als Rückzugsgebiet nutzen.

An der Grenze zu Iran im Westen der Provinz schwelt seit vielen Jahren ein weiterer Konflikt. Dort haben sich einige islamistische Terrorgruppen festgesetzt, die wiederholt Anschläge auf iranische Sicherheitskräfte oder schiitische Pilger verübt haben. Iran fordert schon länger von Islamabad eine härtere Bekämpfung dieser Organisationen, was immer wieder zu diplomatischen Spannungen zwischen beiden Ländern führt. Indes machen die unzugänglichen Berge und Wüsten eine Überwachung der Grenze schwierig. In einem ambitionierten Vorhaben wird nun ein Grenzzaun zwischen beiden Ländern errichtet. Vor wenigen Tagen einigten sich Pakistan und Iran zusätzlich auf eine bessere Koordination bei der Grenzsicherung. Eine bessere Überwachung soll auch den illegalen Schmuggel von Treibstoff und anderen Waren aus dem Iran erschweren.

Karte des China-Pakistan Economic Corridor; Quelle: DW
Als 2013 der China-Pakistan Economic Corridor vereinbart wurde, gab es einen Aufschrei in der Provinz Belutschistan. Separatisten betrachten die chinesischen Investitionen mit Misstrauen und beschuldigen Peking, die Rohstoffe der Provinz ausbeuten zu wollen, ohne dass die Menschen Belutschistans davon profitieren würden. Belutschistan (im Westen des Landes) ist Pakistans flächenmäßig größte und zugleich bevölkerungsärmste Provinz und reich an Edelmetallen wie Kupfer und Gold. Trotzdem gehört die Provinz zu den am wenigsten entwickelten Regionen ganz Südostasiens.

Der neue Tiefseehafen von Gawadar

Das erhöhte Interesse Chinas am Hafen von Gawadar seit 2002 brachte die Provinz in die internationalen Schlagzeilen. Chinesische Unternehmen bauten dort 2006 den ersten Tiefseehafen Pakistans und 2013 unterschrieb Islamabad das Projekt China-Pakistan Economic Corridor (CPEC), das beide Länder über ein verbessertes Straßen- und Schienennetz bis zum Hafen von Gawadar verbinden soll. So erhofft sich Peking einen Zugang zum Arabischen Meer und Islamabad erwartet mehr Devisen durch den Handel mit China. In Rekordzeit trieb die Regierung eine Erschließung des kleinen Fischerortes Gawadar voran, bei der die lokale Bevölkerung allerdings nur wenig eingebunden wurde. Trotz des modernen Hafens fehlt es in den alten Stadtvierteln immer noch an Trinkwasser und Strom.

Militärcheckpoints, die nach Anschlägen belutschischer Nationalisten errichtet worden waren, erschweren zusätzlich das Leben der Stadtbewohner. Unlängst haben Immobilienunternehmer und Bauträger ein Auge auf die Stadt geworfen. Sie locken Investoren aus ganz Pakistan für neu geplante Housing Societies (Wohnungsbaugesellschaften) und Luxuswohnungen in exponierter Lage an. Ende 2021 entlud sich die Frustration in einem der größten Proteste der Kleinstadt. Wochenlang blockierten Demonstranten eine Hauptstraße, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Die Protestler forderten, dass die Regierung entschieden gegen den illegalen Fischfang durch chinesische Trawler vorgeht. Fischfang ist eine Haupteinnahmequelle der Bewohner von Gawadar, die ihre Lebensgrundlage durch die ausländischen Trawler gefährdet sehen.

Gawadar steht exemplarisch für die komplexen Probleme Belutschistans. Obwohl die Regierung immer wieder beteuert, die Sorgen der Bevölkerung ernst nehmen zu wollen, haben viele Menschen das Gefühl, die rasante Entwicklung werde auf ihre Kosten vorangetrieben.

Letztlich kann es Frieden und eine langfristige Stabilität in Belutschistan nur dann geben, wenn die Regierung die Nöte und Sorgen der Bevölkerung tatsächlich adressiert. Bis dahin ist es allerdings noch ein weiter Weg.

Mohammad Luqman

 © Qantara.de 2022

Mohammad Luqman ist Islamwissenschaftler und Südasienexperte mit einem besonderen Forschungsschwerpunkt auf Pakistan.