Ist das die letzte Wahl in der Türkei?
Im Mai 1919 legte ein altes Schiff in Istanbul ab und landete wenige Tage später in Samsun an der Schwarzmeerküste. Aus dem Schiff stieg kein anderer als der osmanische Offizier Mustafa Kemal, der gegen den Palast in Istanbul rebelliert hatte. Er hatte die Hoffnung auf die Osmanen, die sich ergeben hatten, aufgegeben und sich aufgemacht, Anatolien neu zu organisieren. Er startete den Befreiungskampf, um aus einem zerfallenen Reich ein neues Land zu erschaffen. Am 23. April 1920 gründete er das Parlament in Ankara.
Das Parlament, das die moderne Republik brachte, arbeitete auch dann noch weiter, als die griechische Armee sich Ankara auf hundert Kilometer genähert hatte. Das Parlament überstand drei Militärputsche in 94 Jahren. Beim Umsturzversuch vor sechs Monaten wurde es bombardiert, fiel aber nicht zusammen. Dasselbe Parlament ist nun im Begriff, sich selbst den Todesstoß zu versetzen. Obendrein für einen Politiker, der sagt, er habe einen Militärputsch verhindert.
Gaben an das Volk?
Erdoğan und seine AKP, die seit vierzehn Jahren die Türkei allein regieren, meinten auf einmal, das System sei festgefahren. Der einzige Ausweg, glauben sie, sei die Einführung des Präsidialsystems. Zuvor hatten sie das Terrain dafür sondiert. Mit der nach dem Umsturzversuch vom 15. Juli erlangten psychologischen Überlegenheit beschlossen sie, zur Tat zu schreiten. Offenbar meinten sie, es sei an der Zeit, die unbeschränkten Befugnisse, die ihnen der Ausnahmezustand verleiht, zum Normalzustand zu machen.
Mustafa Kemal und seinen Kameraden war es seinerzeit, in einem keineswegs "normalen Zustand" gelungen, ein Parlament im besetzten Land zu gründen. Sie nahmen dem Istanbuler Palast die Souveränität und übergaben sie dem Volk. Mit dem zurzeit im Parlament verhandelten Paket zur Verfassungsänderung soll die Souveränität dem Volk genommen und dem Palast in Ankara gegeben werden. Das Präsidialsystem, das die AKP unbedingt für Erdoğan einführen will, hat mit gleichnamigen Modellen wie etwa dem amerikanischen nichts zu tun. Nicht umsonst nennt die Regierung selbst das Paket "Präsidialsystem türkischer Art".
Unterschrift der Macht
Das Präsidialsystem in den Vereinigten Staaten oder auch das halbpräsidiale System in Frankreich beruhen auf Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und Kontrolle. Das, worüber die Türkei im Augenblick diskutiert, vereint die gesamte Macht in der Hand einer einzigen Person. Dass diese als "Staatspräsident" bezeichnete Person mit mindestens 51 Prozent vom Volk direkt gewählt werden soll, macht das System noch nicht demokratisch. Alleinherrscher über Legislative, Exekutive und Judikative wird, falls das Paket das Parlament passiert und im Referendum mehr als fünfzig Prozent erhält, Recep Tayyip Erdoğan sein. Erdoğan, der bei Wahlkundgebungen den "nationalen Willen" zum Heiligtum erklärt hat, will mit der Hälfte der Wählerstimmen die Befugnis erhalten, hundert Prozent des Volkswillens vom Tisch wischen zu können.
Schauen wir uns an, was ein „Präsident à la Turca“ tun kann: Er kann fast alle höheren Positionen in der Justiz besetzen, er kann die Minister auswählen, er kann Ministerien einrichten und auflösen, er kann Parteivorsitzender sein, er beschließt die Abgeordnetenliste seiner Partei, er kann sein Veto gegen vom Parlament beschlossene Gesetze einlegen. Was will er denn noch? Er kann nach Belieben das Parlament auflösen. Wozu braucht er überhaupt ein Parlament? Im neuen System kann der Staatspräsident mit einer einzigen Unterschrift jedes Gesetz durchbringen, selbstverständlich mit seiner eigenen.
Das Parlament wird überflüssig
Kann das Parlament die vom Staatspräsidenten ernannten Stellvertreter und Minister kontrollieren? Natürlich nicht, sie sind allein dem Palast gegenüber verantwortlich. Nun, wir sind ja alle Menschen, wir können Fehler machen, auch der Staatspräsident. Kann das Parlament ihn kontrollieren? Selbstverständlich, wir haben ja eine "fortgeschrittene Demokratie". In der könnten vierhundert von sechshundert Abgeordneten auch so entscheiden, wie es dem Präsidenten nicht gefällt. Es gibt nur ein kleines Problem: Die Mehrheit der Abgeordneten verdankt ihre Sitze dem Palast. Nehmen wir dennoch an, vierhundert Abgeordnete schwingen sich auf, den Staatspräsidenten zu kontrollieren. Was dann? Dann löst er mit einer einzigen Unterschrift das Parlament auf und – Schluss.
In dem neuen Alleinherrschersystem, pardon, im "Präsidialsystem à la Turca", in dem jeder antastbar ist, nur der Staatschef selbst nicht, hat das Parlament keinerlei Funktion mehr. Da der Palast sein Veto gegen Parlamentsbeschlüsse einlegen und der Präsident zugleich mit eigener Unterschrift Gesetze erlassen kann, werden auch den Willen des Volkes spiegelnde Parlamentswahlen überflüssig.
Und was sagt das Volk zu alledem? Selbst wenn diese Änderung durchs Parlament kommt, in dem Erdoğans Partei über die Mehrheit verfügt, wird es in einem Referendum ja noch dem Volk vorgelegt. Die jüngste Umfrage von "Anar", einem regierungsnahen Meinungsforschungsunternehmen, das Erdoğans ehemaligem Stellvertreter Besir Atalay gehört, gibt Auskunft darüber, wie die Bevölkerung zu der Sache steht: 36 Prozent der Bürger geben an, von dem zur Debatte stehenden System "nichts gehört" zu haben, 28 Prozent haben "sehr wenig Ahnung", 78 Prozent "ein wenig". Fast vier von fünf Bürgern wissen also gar nicht, was das System bringt, über das sie im Referendum entscheiden sollen. Nur einer von fünf Wählern ist davon unterrichtet, dass die gesamte Macht im Land in der Hand einer Person vereint werden soll.
Journalismus hinter Gittern
Wie kann das sein? Wieso wissen die Leute nichts von der heiklen Verfassungsänderung? Tun die Journalisten ihre Arbeit nicht? Nun, seit dem Coup wurden Dutzende Zeitungen, Internetseiten, Fernseh- und Radiosender geschlossen, 170 Journalisten sitzen hinter Gittern. Regierungsnahe Medien stellen die von der AKP angestrebte Neuordnung natürlich als positiven Quantensprung dar. Die einzige durchschlagende Zeitung, die neutral darüber hätte berichten können, was das Präsidialsystem tatsächlich bringt, war "Hürriyet". Was für ein Zufall, wenige Tage vor den Beratungen über die Verfassung im Parlament wurden die höchsten Funktionäre der Dogan-Gruppe, zu der "Hürriyet" gehört, verhaftet.
Es gibt einen staatlichen Fernsehsender, Meclis TV, der rund um die Uhr alle Parlamentssitzungen überträgt. Dort hätte sich die Bevölkerung informieren können. Doch als in der Sitzung, die das Regierungssystem verändern soll, die Redner der Opposition ans Pult traten, unterbrach Meclis TV die Sendung. Die Bürger sahen nur, wie die Abgeordneten der Regierungspartei das Präsidialsystem rühmten. Ein CHP-Abgeordneter hatte eine Kamera mitgebracht, über sein Smartphone ging er damit auf Sendung. Das sahen nur jene, die in den sozialen Medien aktiv sind.
Zerfleischte Demokratie
Und warum melden sich jene, die mitbekommen, was geschieht, nicht zu Wort? Vor dem Parlament versammelten sich Demonstranten, darunter CHP-Abgeordnete. Bei minus fünf Grad in Ankara löste die Polizei die Kundgebung mit eisigem Wasser aus Wasserwerfern und mit Tränengas auf. Nach der Partei der Kurden, der HDP, kann man sich nicht mehr umsehen: Ihr Ko-Vorsitzender Selahattin Demirtaş und zehn ihrer Abgeordneten sitzen im Gefängnis. An der Abstimmung über die neue Verfassung können sie selbstverständlich nicht teilnehmen, sie dürfen ja kaum ihre Anwälte sehen.
In dem 1920 in Ankara gegründeten Parlament hat sich vieles verändert. Was sich nicht geändert hat, ist der über dem Rednerpult hängende Spruch: "Die Souveränität geht uneingeschränkt vom Volke aus." Dieser Ausspruch Mustafa Kemal Atatürks hat es bis heute geschafft. Ebenso die türkische Demokratie, die eine Menge Kratzer aufweist. Wir werden sehen, ob 2017 das Jahr sein wird, in dem die Bürger der Türkei, die sich in einer Gewaltspirale befindet, zum letzten Mal an einer Wahl teilnehmen können.
Bülent Mumay
© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2017
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe.