Eine Chance für Newcomer?
Mit einem Stapel Flyer in der Hand hält eine Gruppe junger Männer und Frauen Ausschau nach Passanten, während ein Unterstützer versucht, das Wahlkampfzelt zu fixieren, damit der Wind es nicht wegpustet. Die kleine Musikanlage haben die jungen Leute ausgeschaltet, um Batterie zu sparen. Es ist wenig los an diesem Nachmittag in Denden, einem Wohnviertel im Westen der Hauptstadt Tunis.
Amenallah Jaouhari versucht, mit dem Gemüsehändler des Quartiers ins Gespräch zu kommen. Für unabhängige Kandidaten zu stimmen lohne sich doch gar nicht, sagt ein Passant im Vorbeigehen. Die hätten im Parlament am Ende sowieso kein Gewicht. Jaouhari, Spitzenkandidat der unabhängigen Liste "Bledna" (Unser Land) sieht das anders. Die etablierten Parteien seien in den vergangenen Jahren gescheitert, jetzt sei Zeit für neue Stimmen. "Das Parlament setzt nicht mehr den Willen der Bevölkerung um. Es ist zu einer Abstimmungsmaschine ohne Seele verkommen." Stattdessen werde Hinterzimmerpolitik gemacht, bei der vor allem Gesetze und Posten verschachert würden.
Würden sich genug unabhängige Abgeordnete im neu zu wählenden Parlament wiederfinden, könne endlich wieder auf inhaltlicher Basis Politik gemacht werden, ist der Ingenieur Anfang Dreißig überzeugt. Aber die Konkurrenz ist groß: Mehr als fünfzig Listen treten in seinem Wahlkreis an, aus dem sieben Abgeordnete ins Parlament entsendet werden. Mehr als 1.500 Parteien und unabhängige Listen sind es landesweit, die auf einen der 217 Plätze im Parlament hoffen.
Kaum Vertrauen in Parteien
Der diskrete junge Mann kennt die politische Landschaft Tunesiens gut. Sein Vater, damals ein Führungsmitglied der Ennahdha-Partei, starb 1995, zur Zeit von Machthaber Ben Ali, unter fraglichen Umständen in Haft. Amenallah Jaouhari war selbst nach der Revolution Mitglied des Parteirats, bevor er 2013 sein Amt niederlegte und die Partei verließ. Seine Frau ist bis heute nicht nur Mitglied, sondern Ministerin und Spitzenkandidatin der muslimisch-konservativen Partei für den Auslandwahlkreis Frankreich. "Manche Leute glauben, dass Parteien von innen reformierbar sind. Ich gehöre nicht dazu", kommentiert Jouhari die ungewöhnliche Konstellation lachend.
Mehr als 80 Prozent der Tunesier haben kaum oder kein Vertrauen in die politischen Parteien, so eine gerade veröffentlichte Umfrage. Die Parlamentsabgeordneten und andere staatliche Institutionen schneiden kaum besser ab. Schon bei den Kommunalwahlen im vergangenen Jahr holten unabhängige Listen deshalb oft gute Ergebnisse. Auch bei der ersten Runde der Präsidentenwahlen Mitte September verpassten die Wähler den Kandidaten etablierter Parteien einen Denkzettel. Daher hoffen dieses Jahr viele Newcomer auf einen Platz im Parlament.
Neue Gesichter wollen das System herausfordern
Gute Chancen kann sich Qalb Tounes ausrechnen, die erst vor wenigen Monaten gegründete Partei des inhaftieren Präsidentschaftskandidaten Nabil Karoui. Ein anderer Neuling in der schnelllebigen politischen Landschaft Tunesiens ist "Aich Tounsi" (Tunesisch leben), eine junge, populistische Bewegung. Aus einer NGO entstanden, finanziert mit den Millionen der Mäzenin Olfa Terras Rambourg, tritt sie landesweit mit dem Slogan an "Habt keine Angst, wir sind keine Partei". Die meisten Kandidaten wollten ja nur Abgeordneter werden, um Immunität zu erlangen und von den Privilegien der Parlamentarier zu profitieren, kritisiert Selim Ben Hassen, Präsident von "Aich Tounsi" und Spitzenkandidat in Tunis.
Seine Bewegung sei ein Ausdruck der "Mobilisierung der Bevölkerung gegen das System". Im Vorfeld der Wahlen hatte "Aich Tounsi" eigenen Angaben zufolge telefonisch mehrere hunderttausend Tunesier nach ihren Prioritäten befragt, um auf dieser Grundlage sein Programm zu schreiben.
Wirtschaft, Gesundheit und Korruptionsbekämpfung sind Themen, die von den Wählern regelmäßig aufgezählt werden, wenn sie nach den dringendsten Problemen Tunesiens gefragt werden. Acht Jahre nach dem politischen Umbruch sitzt der Frust tief und die Revolutionsrendite ist für den Großteil der Bevölkerung ausgeblieben.
Während in der demokratischen Entwicklung durchaus Fortschritte zu verzeichnen sind, blieb die Wirtschaft auf der Strecke. Der tunesische Dinar hat über Jahre an Wert verloren, die Auslandsverschuldung ist genauso angestiegen wie die Inflation und die Kaufkraft der Bevölkerung deutlich gesunken. Korruption, Vetternwirtschaft und eine verkrustete Bürokratie lähmen das Land zusätzlich.
"Die Prioritäten der Wähler sind sozioökonomische, aber genau das wollen die großen Parteien seit 2011 nicht verstehen", so Amenallah Jaouhari. Er stellt sich darauf ein, dass die Wählerinnen und Wähler die Parteien dieses Mal dafür abstrafen werden.
Schwere Regierungsbildung erwartet
Zwar sind offizielle Umfragen im Wahlkampf verboten, doch deutet alles darauf hin, dass keine größere politische Gruppierung oder Partei eine deutliche Mehrheit im Parlament erhalten wird. Selbst eine Regierungskoalition aus zwei oder drei Parteien zu bilden könnten in einem zersplitterten Parlament mit vielen kleinen Fraktionen und unabhängigen Abgeordneten ohne politische Erfahrung eine große Hürde darstellen.
Bereits in der vergangenen Legislaturperiode war das Parlament so zersplittert, dass dies die Arbeit an Gesetzen massiv erschwerte. "Ich denke, wir müssen uns im neuen Parlament auf eine ähnliche Situation einstellen", so Selim Kharrat, Vorsitzender der Nichtregierungsorganisation "Al-Bawsala" (Der Kompass), die sich für mehr Transparenz in der Regierungsführung einsetzt. Die könne die Arbeit der Gesetzgeber lähmen und dringend nötige Reformen verzögern.
Eine Woche nach den Parlamentswahlen findet in Tunesien außerdem die Stichwahl ums Präsidentenamt statt. Dabei tritt der unabhängige Jurist Kais Saied gegen den Medienmogul Nabil Karoui an. Dieser sitzt seit Mitte August im Rahmen eines laufenden Ermittlungsverfahrens wegen Geldwäsche und Steuerhinterziehung in Untersuchungshaft.
Sarah Mersch
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