"Große Feindseligkeit gegen Anti-Rassismus-Aktivisten"
Afua Hirsch arbeitete zunächst als Rechtsanwältin, bevor sie in den Journalismus ging. Ihr Vater ist Brite, ihre Mutter stammt aus Ghana. Für die Tageszeitung "The Guardian" war sie u.a. als Korrespondentin mit Sitz in der ghanaischen Hauptstadt Accra im Einsatz. Hirsch hat sich intensiv mit der Geschichte von Briten mit Migrationshintergrund beschäftigt und 2018 ein Buch mit dem Titel "Brit(ish): On Race, Identity and Belonging" (dt: "Britisch sein: Über Ethnie, Identität und Zugehörigkeit") veröffentlicht. Manasi Gopalakrishnan traf sie beim Global Media Forum in Bonn.
Frau Hirsch, wie sieht die Situation für People of Color im Vereinigten Königreich derzeit aus?
Afua Hirsch: Ich denke, wir haben in mancherlei Hinsicht Fortschritte gemacht. Die Diskussion über die Rechte von People of Color ist sichtbarer geworden und mehr Menschen achten darauf, wie sie mit solchen Fragen umgehen. Doch in mancher Hinsicht haben wir auch Rückschritte gemacht.
In rechten Kreisen beobachten wir eine noch nie dagewesene politische Feindseligkeit gegenüber dem Thema Chancengleichheit von People of Color. Und wir erleben tatsächlich die Dämonisierung von Schriftstellern, Denkern und Aktivisten, die sich gegen Rassismus engagieren.
Es herrscht ein ziemlich beängstigendes Klima: Wenn man einfach nur über Fakten zu rassistischen Ungerechtigkeiten berichtet und über sie diskutieren will, wird man in Großbritannien persönlich verfolgt. Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal erleben würde.
Wurden Sie persönlich verfolgt? Oder können Sie einige Beispiele nennen?
Hirsch: Letztes Jahr sickerte ein Memo der britischen Regierung durch, in dem es hieß, dass ich aus Whitehall (einer Straße im Londoner Regierungsviertel Westminster, Anm.d.Red.) verbannt sei. Ich dürfe nicht mit der Regierung oder mit Beamten zusammenarbeiten, da ich eine "Extremistin" sei - weil ich mich gegen Rassismus engagiere. In dem Memo wurden auch andere prominente antirassistische Denker wie zum Beispiel David Olusoga und Priyamvada Gopal genannt.
Wer sich gegen Rassismus engagiert, wird dämonisiert
Es gab Äußerungen von Ministern der Regierung, in denen sie die Frage aufwarfen, ob die "critical race theory" nicht verboten werden und Menschen, die Bücher über Antirassismus schreiben, kriminalisiert werden sollten.
Wir haben eine Ministerin für Frauen und Gleichberechtigung (Kemi Badenoch, Anm. der Red.), die gesagt hat, dass sie nicht an Feminismus oder Rassismus glaubt. Also ja, das ist wirklich ernst. Früher gab es - unabhängig von der politischen Ausrichtung - immerhin den Druck, diese Themen ernst zu nehmen.
Man würde eigentlich erwarten, dass sich die Dinge verändert haben - vor allem, weil das Vereinigte Königreich mit Rishi Sunak einen Premierminister hat, der selber nicht weiß ist.
Hirsch: Wir haben tatsächlich mehr People of Color in der Regierung als in der Vergangenheit. Doch es handelt sich bei ihnen um Politiker, die ihre eigene Geschichte als Angehörige einer ethnischen Minderheit dazu benutzen, Anti-Rassismusarbeit zu diskreditieren und die Tatsache zu verdrängen, dass wir in unserem Land keine Chancengleichheit für alle Ethnien haben.
Die Botschaft, die man heute in Großbritannien erhält, lautet: Wenn du als Angehöriger einer Minderheit erfolgreich sein willst, musst du deine eigene Community und deren Kampf um gleiche Rechte öffentlich verleugnen. Ich denke, das ist ein Rückschritt.
Sind die People of Color in der Regierung also Teil des Establishments geworden?
Hirsch: Sie sind bereit, ihr eigenes Erbe als politische Waffe einzusetzen und sagen das, was die weißen Wähler ihrer Meinung nach hören wollen.
Wie kann das funktionieren?
Hirsch: Wir leben im Vereinigten Königreich in einem sehr populistischen Klima. Die Wähler wollen hören, dass sich Politiker rassistisch oder ausländerfeindlich äußern. Dass sie gegen den Kampf für Chancengleichheit aller sind. Daher glaube ich, dass vieles von dem, was sie sagen, nicht unbedingt dem entspricht, was sie wirklich glauben. Es ist das, was ihrer Meinung nach bei den Wählern ankommt.
Die Wähler wollen ausländerfeindliche Parolen
Das ist ihre Interpretation der Botschaft des Brexit. Es gibt viele Wahlkreise im Vereinigten Königreich, die berechtigte Gründe haben, sich zu beschweren, weil sie abgehängt wurden. Es gab nach der Deindustrialisierung keinen Plan für ihre Gemeinden und die Vorteile der Globalisierung wurden nicht gleichmäßig verteilt.
Diese großen existenziellen Probleme lassen sich nicht von einer Generation von Politikern lösen. Es ist äußerst schwierig, mit dem Versprechen zur Wahl anzutreten, Antworten auf diese Probleme zu haben. Deshalb machen es sich die Politiker leicht und schieben die Schuld für Missstände auf die Einwanderung und den Multikulturalismus - in der Hoffnung, damit den Anschein zu erwecken, sie hätten eine Art Antwort auf diese viel größeren, viel tiefer verwurzelten Probleme.
Wie wirkt sich das zusammen mit den explodierenden Lebenshaltungskosten aus, insbesondere für People of Color, die meist zur unteren Mittelschicht gehören?
Hirsch: Die Krise hat das Potenzial, die Unehrlichkeit dieser politischen Agenda zu entlarven. Die Realität ist nämlich, dass der Brexit Großbritannien nicht wohlhabender gemacht hat. Er hat nicht mehr Arbeitsplätze geschaffen. Er hat Großbritannien nicht vor einer weltweiten Krise mit steigenden Lebenshaltungskosten bewahrt. Wenn überhaupt, dann hat er Großbritannien anfälliger für all diese Probleme gemacht.
"Der Brexit hat Großbritannien nicht wohlhabender gemacht"
Tatsächlich hat der Weggang vieler Migranten der Wirtschaft in vielerlei Hinsicht geschadet. Der Dienstleistungssektor und die Landwirtschaft haben jetzt Schwierigkeiten, geeignete Arbeitskräfte zu finden. Ich denke, dass die Wählerinnen und Wähler dadurch klüger geworden und besser gewappnet sind. Sie hinterfragen jetzt die Vorstellung, dass es schnelle Lösungen für all diese Probleme gibt.
Autorinnen und Autoren of Color gewinnen auf der ganzen Welt an Sichtbarkeit. Glauben Sie, dass das nur oberflächlich so ist? Oder hat es tatsächlich Auswirkungen darauf, wie Sie als Autorin mit nicht-weißem Hintergrund gesehen werden?
Hirsch: Es ist eine Tatsache, dass Autoren, Akademikerinnen und Filmemacher mit schwarzem Hintergrund sichtbarer geworden sind. Das liegt zum Teil einfach daran, dass sie so lange keine Plattform und keine Chance auf dem Buchmarkt hatten.
Aber diese neue Sichtbarkeit spiegelt auch die Tatsache wider, dass Menschen heute generell Zugang zu mehr Informationen haben und in der Lage sind, die Geschichten zu finden, die sie suchen. Heute wird alles immer mehr zu einem Marktplatz. Früher wurden die Informationen, zu denen wir Zugang hatten, sehr stark von weißen "Gatekeepern“ kontrolliert.
Man konnte das beispielsweise nach dem Tod der Queen sehen. Früher konnten die britischen Medien weltweite Medienreaktionen beeinflussen. Heute hören wir Stimmen aus der ganzen Welt - aus Indien, Australien, Kanada - mit sehr persönlichen Erinnerungen an Gräueltaten, die im Namen der britischen Krone begangen wurden. Die britischen Medien konnten nicht mehr all die Geschichten kontrollieren, die weltweit über diese Institution erzählt wurden. In einer Demokratie müssen wir das feiern.
Das Interview führte Manasi Gopalakrishnan.
© Deutsche Welle 2023
Adaption aus dem Englischen: Nikolas Fischer