"Journalismus und Literatur gehen für mich Hand in Hand"
"Bücher, Filme, Vorstellungskraft!" - spontan nennt Leila S. Chudori diese drei Dinge, als sie bei einem Interview Anfang des Jahres nach der treibenden Kraft hinter ihrem Schreiben gefragt wird. Sie erzählt, welchen großen Stellenwert Bücher, Geschichtenerzählen und Schreiben immer schon in ihrem Leben eingenommen haben.
Leila wächst in einer Familie auf, in der Lesen und Schreiben nicht nur eine große Rolle spielen, sondern als etwas Lebensnotwendiges, etwa wie Sauerstoff, gelten: Der Vater arbeitet als Journalist bei der Nachrichtenagentur Antara, und die Mutter führt Leila und ihre zwei Geschwister nicht nur an die Werke bekannter westlicher Autoren wie Charles Dickens oder Mark Twain heran, sondern – mithilfe von Comics - auch an die indischen Epen Mahabharata und Ramayana. Es überrascht daher nicht, dass sich Leila selbst bereits früh im Schreiben übt. Ihre ersten Texte schreibt sie in der Grundschule und sendet sie an Kinderzeitschriften. Als ihr erster Text veröffentlicht wird, ist sie zwölf.
Literarisches Fingerspitzengefühl und journalistischer Anspruch
Wenige Jahre später blickt Leila bereits auf eine Reihe von Veröffentlichungen zurück. Ihre Kurzgeschichten erscheinen in indonesischen Zeitschriften, teilweise in englischer Übersetzung auch in Malaysia und den Philippinen, oder werden in Anthologien veröffentlicht. Während ihrer Studienzeit schreibt sie zunehmend journalistische Beiträge für indonesische sowie internationale Zeitschriften. Sie studiert in Kanada, wo sie zunächst das "Lester B. Pearson College of the Pacific" in Victoria besucht, bevor sie anschließend Politikwissenschaft und Vergleichende Gesellschaftspolitik an der University of Trent belegt.
Nach ihrem Abschluss 1988 kehrt sie in ihre Heimatstadt Jakarta zurück und beginnt 1989 ihre Laufbahn als Journalistin beim indonesischen Wochenmagazin TEMPO. "Journalismus und Literatur", so die Autorin, "gehen in meinem Leben Hand in Hand und befruchten sich gegenseitig."
In den ersten Jahren bei TEMPO konzentriert sich Leila zunächst auf ihre journalistische Arbeit und lässt das literarische Schreiben ruhen. "Als ich wieder mit dem Schreiben begann und einige Titel veröffentlichte, merkte ich, was mich der Journalismus alles gelehrt hat, zum Beispiel diszipliniert zu arbeiten und effektiver bei meinen Recherchen vorzugehen." Diese Verbindung von literarischem Fingerspitzengefühl und journalistischem Anspruch setzt die Autorin in ihren jüngeren Werken, etwa in ihrem Debütroman Pulang (Heimkehr nach Jakarta), gekonnt in die Schreibpraxis um. Die Arbeit an diesem Buch führte sie hinein in die dunklen Zeiten der indonesischen Geschichte, die das Leben vieler tausend Menschen in und aus Indonesien bis heute beherrschen.
Auseinandersetzung mit dem schwarzen Kapitel
In diesem Jahr feiert Indonesien den 70. Jahrestag seiner Unabhängigkeit. Und in diesem Jahr jährt sich zum 50. Mal ein Datum, das das schwärzeste Kapitel der damals noch jungen Republik einläutete: In der Nacht zum 1. Oktober 1965 wurden sieben hochrangige Militärs entführt und ermordet. Das Militär beschuldigte die Kommunistische Partei Indonesiens als Drahtzieher hinter den Morden und des angeblichen Putschversuchs.
Unter dem Vorwand wurden in den folgenden Jahren viele Tausende Anhänger der kommunistischen Partei (PKI) ebenso wie linke Intellektuelle oder Vertreter von Bauernverbänden festgenommen, gefoltert und ermordet.
Laut Schätzungen von Amnesty International fielen den Massenmorden der Jahre 1965 und 1966 mehr als eine Million Menschen zum Opfer, zahllose weitere Menschen wurden jahrelang in Straflagern gefangen gehalten, ihre Familienangehörigen verfolgt und diskriminiert, Tausende flohen ins Exil. General Suharto wurde 1967 Staatschef und etablierte die Regierung der Neuen Ordnung, der Orde Baru, die über drei Jahrzehnte im Land herrschte.
Leila S. Chudori, geboren 1962, gehört der Generation an, die mit der offiziellen Version der Geschichte aufwuchs. Unter der Orde Baru ging die Ermordung der sieben Militärs als Coup der kommunistischen "Bewegung des 30. September" in die Geschichtsbücher, in Dokumentationen und offiziellen Medienberichten ein. Gegenteilige Auffassungen wurden mit der Anschuldigung, die "marxistische und kommunistische Ideologie zu verbreiten", verfolgt und sanktioniert.
Kritische Stimmen - darunter viele Kulturschaffende und Autoren - wurden mit Arbeitsverboten zum Schweigen gebracht. Darunter ist der Schriftsteller Pramoedya Ananta Toer, der mehr als ein Jahrzehnt auf der Gefangeneninsel Buru - wie viele andere ohne Anklage oder Prozess - inhaftiert war. Die verbotenen Schriften des später mehrfach für den Literaturnobelpreis nominierten Autors weckten bei vielen Lesern der jungen Generation allerdings die Neugier. Auch Leila will mehr über den Autor und seine Bücher erfahren. Während eines Ferienaufenthalts in Jakarta erfährt sie von der Tetralogie Pramoedyas, die dieser auf Buru verfasst hatte, und kauft sich heimlich ein Exemplar, um es in Kanada auf dem Campus zu lesen.
Auf der Suche nach Antworten
Nach ihrem Studienabschluss reist Leila von Kanada zunächst nach Europa. In Paris besucht sie das Restaurant "Indonesia" und macht die Bekanntschaft mit den Gründern Oemar Said, Sobron Aidit sowie mit anderen im Exil lebenden Indonesiern. Für die Studienabsolventin ist es das erste Mal, dass sie mit dem Schicksal von Menschen im politischen Exil in Berührung kommt.
In Jakarta trifft sie über ihren Vater ehemalige politische Häftlinge und bekommt einen Eindruck vom Ausmaß der Verfolgung bis in die jüngste Zeit. Bei der Zeitschrift TEMPO und anderen Medien trifft Leila auf Kollegen, die Pseudonyme benutzen müssen, um ihrer Arbeit nachgehen zu können. Ihre eigene Arbeit beim Magazin TEMPO bringt sie direkt mit der Gewalt der Orde Baru in Berührung: Die Zeitschrift wird 1994 (zum ersten Mal) wegen eines kritischen Leitartikel verboten.
Leila wird mehr und mehr die Komplexität der Geschichte Indonesiens und das manipulierte Geschichtsbewusstseins seiner Bewohner bewusst. Unendlich viele Fragen tun sich auf. Es gibt eine ungeheure Zahl von Menschen, die unter der Orde Baru eine schattenhafte Existenz führen. "Sie sind indonesische Bürger, aber ihre Rechte als solche wurden ihnen abgesprochen – nicht nur seitens der Regierung, sondern schließlich auch seitens der Öffentlichkeit, die über Jahrzehnte einer Gehirnwäsche unterzogen wurde."
Sechs Jahre lang hat Leila für ihren Roman Pulang (Heimkehr nach Jakarta) recherchiert und viele Interviews mit ehemaligen politischen Gefangenen und Menschen im Exil geführt. Auch wenn vieles in der indonesischen Geschichte im Dunkeln bleibt, verfolgt sie mit ihrem Schreiben das Anliegen, Antworten auf die vielen drängenden Fragen zur dunklen Geschichte Indonesiens zu finden.
Sabine Müller
© Qantara.de 2015
Die Autorin hat Leila S. Chudoris Roman "Pulang" (Heimkehr nach Jakarta) aus dem Indonesischen ins Deutsche übersetzt. Erschienen ist das Buch 2015 im Weidle Verlag, 432 Seiten, ISBN 978-3-9388803-74-2