Der diskrete Charme der Rebellion
"Ich habe mich in ein Insekt verwandelt", singt Tamer Abu Ghazaleh fast kafkaesk in seinem Lied "El Balla'at", das er in hämmernde Elektro-Chaâbi-Rhythmen verpackt hat. "Und jedes Mal, wenn dieses Insekt versucht, sich in Sicherheit zu bringen, wird es beleidigt, man trampelt auf ihm herum, zerquetscht es, bricht es auseinander, zündet es an."
Nach jeder erdenklichen Methode der Folter verschwindet das gepeinigte Tier im Abwasserkanal, wo es ertrinkt. "Das sind keine Metaphern", stellt Ghazaleh klar, "sondern ich teile auf diese Weise meine Gefühle mit. Die Frustration und die Enttäuschung über all jene Ereignisse, die sich in Ägypten nach dem Arabischen Frühling ereignet haben."
Ghazaleh weiß, wovon er spricht: Er ist einer der führenden Kreativköpfe der jungen Kulturschaffenden in Kairo, die um ihre Revolution betrogen worden sind. Doch er lässt sich nicht unterkriegen. Von Kairo aus hat er ein ganzes Netzwerk an Initiativen aufgebaut: sein Label Mostakell, die Konzertagentur Almoharek, der Verlag Awyav und die Musikzeitschrift Ma3azef – sie alle sind seit 2007aus seiner Firma eka3 hervorgegangen, die er einen "Brutkasten" fürs unabhängige arabische Musikgeschäft nennt.
Kein Ökosystem für neue Sounds und Perspektiven
"Viel zu lange mussten wir unsauf einige wenige große Labels verlassen, es gab kein Ökosystem, das neue Sounds und Sichtweisen wirklich genährt, unterstützt und monetarisiert hat. Ich versuche das zu ändern."
Die Situation hat sich in den post-revolutionären Tagen nicht verbessert. Ghazaleh betont zwar, dass er niemals Zensur oder konkrete Bedrohungen seiner Arbeit erfahren habe, aber die Nichtexistenz von Kulturfonds und die komplette Ignoranz der Medien vor Ort seien eine ebenso große Bürde.
Ein Ventil für seine Verzweiflung ist seine eigene Liedkunst, die der 30-jährige vom Kindesalter an entwickelt hat und die ganz tief inseinem palästinensischen Erbe wurzelt. Zwar ist er bereits in Kairo geboren, war jedoch während seiner Schulzeit für sechs prägende Jahre in Palästina, hatte dort Unterricht beim Musikologen Khaled Jubran.
"Mein Oud- und Bouzouki-Spiel, auch mein Gesangstil sind sehr von dieser Zeit beeinflusst, während der ich sowohl der traditionellen Musik meiner Vorfahren als auch aktueller palästinensischer Musik ausgesetzt war", erzählt Ghazaleh.
Heute, so reflektiert er, sei seine Musik sowohl vom Maqam-System der klassischen arabischen Musik geprägt als auch von westlichen Begriffen wie Harmonie und Kontrapunkt. Erprobt hat er sie in verschiedenen Bandprojekten, darunter im Kollektiv Kazamada, dem auch Zeid Hamdan von der libanesischen Electro-Band Soap Kills angehörte, oder bei der pan-arabischen Gruppe Alif, die zwischen Kairo, Beirut und London einen post-revolutionären Sound definiert hat.
Eine hochkomplexe Musikarchitektur
Einige Mitglieder von Alif spielen nun auch in Ghazalehs eigener Band, die sich - ebenso international – aus dem Kairoer Pianisten Shadi Elhosseiny und dem Bassisten Mahmoud Waly, dem Drummer Khyam Allami aus der Londoner Punkrock-Szene und dem libanesischen Perkussionisten Khaled Yassine zusammensetzt.
Aus diesem unterschiedlichen Hintergrund der Musiker entstanden sehr ausgearbeitete Stücke. Ihre komplexe Architektur auf der aktuellen CD "Thulth" lässt stellenweise sogar an den Progressive Rock von King Crimson oder Genesis denken, auch wenn Ghazaleh versichert, dass er sich mit diesem Genre nie befasst habe.
"Thulth" ist zudem als Gesamtkunstwerk zu verstehen, das in einer aufwendigen Grafikgestaltung Fotografie und Malerei verschmilzt und Ghazalehs eigene Poesie mit Gedichten aus dem Heute und Gestern zusammenfügt.
Reflexion politischer Missstände
So singt er zum Beispiel im Song "Hob" Verse von Qabs ibn al-Mulawwah aus dem 7. Jahrhundert, in denen es um die Qualen der Liebe geht. Ghazaleh hat die alte Dichtung allerdings auf die heutige Situation angewandt: "Die Aggression in diesem Song spiegelt meine Wut über die israelischen Angriffe und die Blockade der West Bank während der zweiten palästinensischen Intifada wider", sagt er.
Das Schicksal seines Volkes ist ihm auch in "Alameh" ein Anliegen, das auf Lyrik des jungen alexandrinischen Poeten Ramez Farag zurückgeht. "Hier geht es um die Sehnsucht des palästinensischen Volkes - nach dem Recht, sich niederzulassen oder wenigstens ein würdiges Leben im Flüchtlingslager zu führen, eine Sehnsucht, die heute auch von Millionen Syrern, Libyern und Jemeniten erlebt wird."
Herausragend ist das Stück "Helm". Nach konzentriertem Zuhören entdeckt man darin die Melodie von Carlos Pueblas Klassiker "Commandante Che Guevarra", auch wenn der Inhalt in eine ganz andere Richtung weist: "Die Zeilen stammen von Naguib Sorour, er ist eine der Schlüsselfiguren im zeitgenössischen ägyptischen Theater und lyrischen Schaffen", so Ghazaleh. "Der Text bezieht sich auf einen Traum aus einem Theaterstück, in dem einer Frau in einem Traum der ermordete Geliebte erscheint, als Schiffbrüchiger, der mit einem Boot am Horizont verschwindet."
Es mag für westliche Hörer eine gewisse Hürde darstellen, dass Tamer Abu Ghazalehs Musik so eng mit den Texten verknüpft ist und man sich mit dem gesungenen Wort befassen sollte, um sein Schaffen umfassend würdigen zu können. Wer diese Anstrengung jedoch auf sich nimmt, dem enthüllt sich mit die spannendste Klangkunst, die die arabische Szene momentan jenseits des Mainstreams zu bieten hat. Lieder, die nicht nur Zorn und Aufbegehren, sondern immer auch eine empfindsame Seite offenbaren.
"Rebellentum trägt eine Schönheit in sich", reflektiert Ghazaleh. "Doch ich mag es nicht, meine Songs vorsätzlich in eine bestimmte Richtung zu entwickeln. Ich teile einfach meine Gefühle mit, und manchmal sind diese Gefühle eben auch rebellisch."
Stefan Franzen
© Qantara.de 2016
Aktuelle CD von Tamer Abu Ghazaleh: "Thulth" (Mostakell/Cargo)