Ein Duell, das keiner wollte

Die Präsidentschaftswahlen in Ägypten gehen in die zweite Runde: Am 16. und 17. Juni haben die Ägypter die Wahl zwischen dem wenig charismatischen Islamisten Mohamed Mursi und Ahmed Shafik, einem Vertreter des alten Regimes.

Kommentar von Thomas Demmelhuber

Ägypten wählte nach einem lebhaft geführten Wahlkampf seinen ersten Präsidenten nach Übernahme der Macht durch das Militär im Februar vergangenen Jahres. Da keiner der Kandidaten die erforderliche absolute Mehrheit erreichte, gehen die beiden bestplatzierten Kandidaten in eine Stichwahl.

Alleine diese Nachricht deutet zunächst auf eine sich fundamental verändernde politische Realität im Land am Nil hin, im Vergleich zu den verkrusteten Mechanismen des autoritären Mubarak-Regimes. Die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft haben sich nachhaltig verändert. Protest wird über formale und informelle Wege artikuliert und steht stellvertretend für eine sich lebhaft ausdifferenzierende Streitkultur in der ägyptischen Öffentlichkeit.

Geringe Wahlbeteiligung

Gleichwohl hat Ägypten seit Rücktritt von Hosni Mubarak knapp eineinhalb zermürbende Jahre des Protests, der Neuaushandlung politischer Macht und der Hoffnung auf eine rasche sozioökonomische Revolutionsdividende hinter sich. Letzteres hätte Grund genug für eine hohe Wahlbeteiligung sein müssen. Das Gegenteil war der Fall: Weit weniger als die Hälfte der registrierten Wahlberechtigten gingen zur Stimmabgabe.

Vor dem Hintergrund, dass nicht alle de jure Wahlberechtigten registriert sind, ergibt sich eine noch niedrigere Wahlbeteiligung. Viele Protestgruppen der ersten Stunde, aber auch Integrationsfiguren wie Mohammed ElBaradei boykottierten die Stimmabgabe aus Protest gegen die als nicht frei und fair wahrgenommenen politischen Rahmenbedingungen, die sie auf die Machtinteressen des Obersten Militärrats zurückführten.

Viele von ihnen fühlen sich um die "Früchte der Revolution" betrogen und sind ob der hohen Erwartungen an eine rasche Revolutionsdividende nach Mubaraks Rücktritt ernüchtert. Die Wirtschaft liegt am Boden, die Einkünfte aus dem Tourismusgeschäft erholen sich nur sehr langsam und die Sicherheitslage ist weiterhin schlecht.

Der Wahlkampf im Vorfeld der Wahlen trug diesen drängenden Missständen nur rudimentär Rechnung. Keiner der Bewerber präsentierte ein schlüssiges Konzept, wie er das Land aus der Krise führen wolle. Keiner konnte glaubhaft formulieren, wie er unter seiner Präsidentschaft das durch multiple Konfliktlinien gespaltene Land wieder zusammenführen wolle. Keiner der Kandidaten war in der Lage, eine landesweite Unterstützungsbasis aufzubauen.

Enttäuschendes Ergebnis für Abul-Fotouh

Zu der ersten Etappe der Präsidentschaftswahlen traten nach der Disqualifikation zahlreicher Bewerber durch die Oberste Wahlkommission – unter ihnen auch der Vertreter der Salafisten oder der Ex-Geheimdienstchef Omar Suleyman – schließlich zwölf Kandidaten an.

​​Als Favoriten wurden im Vorfeld, in Folge von zahlreichen wenig verlässlichen Meinungsumfragen, vor allem der ehemalige Muslimbruder und gemäßigte Islamist Abdel-Moneim Abul-Fotouh und der Ex-Generalsekretär der Arabischen Liga und Karrierediplomat Amr Moussa gehandelt.

Dem Kandidaten der Muslimbruderschaft, Mohamed Mursi, wurden zunächst nur wenige Chancen eingeräumt. Er galt vielen als zu farblos, wenig charismatisch und nur als Notlösung, da der eigentliche Wunschkandidat Khairat al-Shater von der Wahlkommission wegen einer früheren Haftstrafe nicht zugelassen wurde.

Obgleich im unmittelbaren Vorfeld der Wahlen Mursi aber auch Ahmed Shafik und der Linksnationalist Hamdeen Sabahi an Zustimmung gewannen, rechnete niemand mit dem recht deutlichen Ergebnis, das vorbehaltlich der Verkündigung der offiziellen Wahlergebnisse, in eine Stichwahl zwischen dem Islamisten Mursi und dem Ex-Militär Ahmed Shafik münden wird.

Mursi geht dabei als Gewinner der ersten Wahletappe mit gut einem Viertel der abgegebenen Stimmen und leichtem Vorsprung gegenüber Shafik in die Stichwahl. Abgesehen von den beiden Überraschungssiegern erstaunte das Abschneiden der Nächstplatzierten. Unerwartet schwach ist einerseits das Wahlergebnis des gemäßigten Islamisten Abul-Fotouh.

Das ehemalige Führungsmitglied der Muslimbruderschaft ist bürgerlich, konservativ und fromm, konnte auch im gesamten politischen Spektrum – sogar jenseits konfessioneller Lager – Unterstützung generieren, erreichte nach den Auszählungen aber nur den vierten Platz.

​​Überraschend andererseits ist der respektable dritte Platz von Sabahi, den zunächst niemand auf der Rechnung hatte, der aber vor allem bei generationenübergreifenden Gesellschaftssegmenten mit seiner post-nasseristischen Rhetorik als politische Alternative auch bei der Revolutionsjugend eine Unterstützungsbasis aufbauen konnte. Sabahi war offenkundig für Wähler, die weder einen religiösen Kandidaten noch einen offenkundigen Vertreter des alten Regimes wollten, eine Alternative.

Das Duell

Die Stichwahl Mursi vs. Shafik ist nun das am meisten polarisierende Duell, welches bei der Kandidatenauswahl möglich war: auf der einen Seite der blass wirkende und wenig charismatische Mursi, der mit vielen Äußerungen säkulare und liberale Ägypter aufschreckte; auf der anderen Seite ein offenkundiger Vertreter des alten Regimes, der letzte von Mubarak eingesetzte Premierminister, der im Wahlkampf keinen Hehl daraus machte, dass er bei den Protestprotagonisten die Verantwortung für den Verfall der öffentlichen Ordnung sieht.

Shafik versprach auch sogleich bei seinen Wahlkampfauftritten, dass er mit dem ersten Tag seiner Präsidentschaft wieder für Ruhe und Ordnung auf den ägyptischen Straßen sorgen wolle. Damit konnte er scheinbar bei vielen Ägyptern punkten, da sich diese wieder nach größerer Stabilität und Sicherheit sehnen, nicht zuletzt darum, weil dies die Grundlage für normales wirtschaftliches Handeln und öffentliches Leben ist.

In den Debatten zum Wahlverlauf und der Auszählungsphase waren in den virtuellen Diskussionen sozialer Netzwerke wie Facebook oder dem Kurznachrichtendienst Twitter bereits heftige Diskussionen zu verfolgen. Ob das nun zu einem Wahlboykott und zu einer noch geringeren Wahlbeteiligung bei der Stichwahl führt, welche die demokratische Legitimation des neu gewählten Präsidenten stark beschädigen würde, bleibt abzuwarten.

Eine geringe Wahlbeteiligung wäre für den Islamisten Mursi zuvorderst keine schlechte Nachricht, da er auf die hohe Mobilisierungsfähigkeit seiner Graswurzelbewegung der Bruderschaft vertrauen könnte, die ihn letztlich locker über die nötige 50-Prozent-Marke der abgegebenen Stimmen bringen würde. Dennoch, die Wahl im Juni wird eine Richtungswahl, welche tiefe Trennlinien in der ägyptischen Gesellschaft abbilden wird.

​​Letztlich bleibt das Ergebnis der Stichwahl auch aus formaljuristischer Perspektive wackelig: Das Parlament verabschiedete im Vorfeld der Kandidatenregistrierung noch ein Gesetz, das es ehemaligen Mitgliedern des Mubarak-Regimes verbietet zu kandidieren. Shafik legte Protest ein, ging in Berufung, sodass das Oberste Verfassungsgericht im Nachgang zu der Stichwahl darüber entscheiden muss. Falls das Gericht das Gesetz als verfassungskonform bezeichnen würde, wären wohl die gesamten Präsidentschaftswahlen Makulatur.

Was will das Militär?

Der Wunsch des Militärs alsbald sämtliche exekutiven Machtkompetenzen abzugeben, bleibt trotz der widersprüchlichen Signale in der Vergangenheit weiterhin glaubhaft. Gleichwohl ist das Leitprinzip der Generalität, mit Abgabe der formalen Regierungsverantwortung die mit Privilegien behaftete Rolle des ägyptischen Militärs weiter zu behalten, handlungsleitend.

Politisch wird das Militär eine institutionelle Revolutionsdividende beanspruchen, da es in Zeiten des Umbruchs die Sicherheit und Einheit der Nation gewährleistet hat und quasi den Staat, den es vor 60 Jahren selbst geschaffen hat, protegierte. Diese Strategie wäre mit dem Kandidaten Shafik sehr viel leichter durchzuführen als mit dem Kandidaten Mursi.

Ob ein Wahlsieg Shafiks von breiten Segmenten der Gesellschaft und vor allem von den Kerngruppen der Revolutionsjugend anerkannt würde, bleibt fraglich und ist aus gegenwärtiger Sicht ob der hohen Mobilisierungskraft der Islamisten ohnehin eher unwahrscheinlich.

Indessen kündigten bereits zahlreiche Protestgruppierungen Massenproteste und eine zweite Revolutionswelle an, falls Shafik die Stichwahl gewinnen sollte. Es bleibt also weiterhin hochspannend im Land am Nil.

Thomas Demmelhuber

Professor Dr. Thomas Demmelhuber ist Juniorprofessor für Politikwissenschaft an der Stiftung Universität Hildesheim

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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de