Süßes Unbehagen
"Eine autobiografische Rundreise in Ost und West und dazwischen": Während das auf den ersten Blick wie eine etwas kryptische Aussage erscheinen mag, zeigt ein kurzer Blick auf ihre Biographie, was sie damit eigentlich meint. Reem Kelani wurde im englischen Manchester geboren, wuchs aber in Kuwait auf und lebt heute in London. Es scheint, dass ihr Weg zur Musik so weitläufig war wie alles andere in ihrem Leben. Sie ist nicht nur eine erfahrene Literaturübersetzerin, sondern hat auch die Kuwait University als Diplom-Biologe abgeschlossen, bevor sie sich für eine Karriere in der Musik entschied.
Ihre Jugend hat sie im liberalen Kuwait der 1970er und 80er verbracht, wo weibliche Sängerinnen und Bandleaderinnen an der Tagesordnung waren. All dies mag zwar ihre Lebens- und Karriereentscheidungen erheblich geprägt haben, doch was sie nach wie vor am meisten inspiriert und beeinflusst, ist ihr palästinensisches Erbe. Bereits ihre früheren musikalischen Projekte – ihr Erstlingswerk "Sprinting Gazelle – Palestinian Songs from the Motherland and the Diaspora" ("Sprintende Gazelle – palästinensische Lieder aus dem Mutterland und der Diaspora") und ihre Beteiligung an "Cry Palestine" ("Palästina, weine") – spiegeln eindrucksvoll ihren Wunsch wider, über ihr Volk zu singen.
Natürlich ist dies typisch für viele Künstler, die im Exil leben. Was allerdings Kelanis Gefühle angeht, haben diese eine etwas andere, intensivere Qualität: Den Text ihres Titelsongs "Why Do I Love Her" – "Warum liebe ich sie", wobei mit "sie" eine Palästinenserin gemeint ist – schrieb sie, nachdem sie während eines Besuchs bei ihrer Großfamilie in Palästina ins Krankenhaus musste. Es scheint, dass sie nach jedem dieser Besuche erst einmal krank wird.
Tiefe Verbundenheit
"Am Tag kann ich mich nicht ausruhen, und in der Nacht kann ich nicht schlafen. Oft habe ich das lähmende Gefühl von 'frei fließender' Angst, gemischt mit einem süßen Unbehagen. Mein Gefühl der Entfremdung wird noch verstärkt, wenn ich nachts Auto fahre und verschlungene Straßen und Dörfer sehe – brutal zerteilt durch Siedlungsraster, die laut internationalem Recht illegal sind".
"Cry Palestine" selbst ist ein Ausdruck der Leidenschaft und schlichter Eleganz. Das Stück beginnt mit einem beeindruckenden und prägnanten Klaviersolo von Bruno Heinen. Nach etwa einem Drittel des Songs partizipieren die anderen Bandmitglieder (Ryan Trebilcock am Kontrabass und Antonio Fusco am Schlagzeug), im Anschluss singt Kelani.
Der Text des Stückes ist auf Arabisch, Leidenschaft und Qual in ihrer Stimme sind kaum zu überhören, wenn sie ihren Gefühlen für Palästina freien Lauf lässt. Der überwiegende Teil des Liedes handelt davon, wie erstickend und klaustrophobisch die Umstände sind, unter denen die Menschen dort leben: "Ihr Himmel ängstigt mich/Ihre Luft erstickt mich/Ihre Nähe zerfetzt mich": Diese letzten beiden Zeilen machen klar, wie sehr sie das Land ihrer Vorfahren liebt, was auch immer dort geschehen mag.
Diese Sprache erinnert an die Art, wie die Ureinwohner Nordamerikas über ihre ehemaligen traditionellen Stammesterritorien sprechen. Für sie sind es nicht nur Orte, an denen sie einst gelebt haben. Vielmehr ist die Rede von einem Land, zu dem sie eine tiefe Beziehung haben – und das ihnen genommen oder zerstört wurde.
Auch wenn keiner der anderen drei Titel die emotionale Intensität von "Why I Love Her" erreicht, entfalten alle Songs auf Kelanis EP ihre ganz eigene Kraft. Das Eröffnungsstück "Last Night O Saud" ("Letzte Nacht, oh Saud") ist eine Verbeugung Kelanis vor ihrer Kindheit in Kuwait. Es wurde zwar von einem Mann namens Abdul-Aziz Al-Basri geschrieben und handelt von dessen Gefühlen gegenüber seiner Geliebten, doch wirklich berühmt wurde es durch die beiden prominenten kuwaitischen Sängerinnen Aysha Al-Marta und Laila Abdul-Aziz.
Interessant an diesem Stück ist vor allem, wie es Kelani und ihre Musiker geschafft haben, Einflüsse des westlichen Jazz mit den synkopierten Rhythmen des Nahen Ostens in Einklang zu bringen. Wenn Kelani auf der Rahmentrommel spielt, bekommt der traditionelle Beat des Stückes eine leicht dissonante Note. Dies gibt ihm aber auch eine besondere Betonung und erhöht damit seine Wirkung. So wird der Titel zu einem wunderbaren Beispiel dafür, wie es möglich ist, zwei Musikstile miteinander zu vereinen ohne dabei ihre jeweilige Eigenständigkeit zu verlieren.
Botschaften der Hoffnung
Das zweite Stück der Platte "Going up the Mountain" ("Den Berg besteigen") ist eher ein traditionelles palästinensisches Lied. Laut Kelani kennt niemand genau seine wirkliche Herkunft, doch glaubt die Musikerin, das Lied sei zu der Zeit geschrieben worden, als die Region Teil des Osmanischen Reiches war, da der Text ein türkisches Wort enthält. Das Lied wurde einst von palästinensischen Frauen gesungen, wenn sie ihre Ehemänner im Gefängnis besuchten. Bei diesem Text handelt es sich um einen subversiven Code, mit dem die Ehefrauen ihren inhaftierten Geliebten eine Botschaft der Hoffnung übermitteln konnten.
Nicht nur sind diese Worte auch heute noch bedeutsam, da immer noch so viele Palästinenser im Gefängnis sitzen, sondern sie erinnern die Zuhörer auch daran, wie lang sie bereits von fremden Mächten regiert werden. Auf eine Besatzung folgte die nächste, und stets wurde ihr Schicksal von anderen bestimmt. Seit vielen Generationen sind sie ein Volk ohne Recht auf ein eigenes Land.
Allerdings erinnert Kelani uns auch daran, das Musik zu hören schlicht Freude bereiten kann und nicht immer politische Botschaften übermitteln muss. Der letzte Song des Albums ist eine Cover-Version des amerikanischen Jazz- und Blues-Standards "Mama Don't Allow". Man kann diesem Stück wahrlich anhören, dass Kelani und ihre Band beim Einspielen wohl sehr viel Spaß hatten. Und an dieser Stelle können wir auch ihren besonderen Sinn für Humor heraushören – als Zugabe gibt sie sogar noch ein Kaoo-Solo.
Reem Kelani ist ein wahres Kraftpaket von Performerin, ihre Stimme vermittelt eine seltene Tiefe von Leidenschaft und Emotion. Hinzu kommen noch Kelanis besondere Fertigkeiten als Arrangeurin. So gelingt es ihr, die musikalischen Traditionen zweier Kulturen fast nahtlos miteinander zu kombinieren. Obwohl "Why Do I Love Her" insgesamt nur vier Songs umfasst, ist die EP wohl das perfekte Intro für kommende Veröffentlichungen dieser großartigen Sängerin, auf die wir schon jetzt mit Spannung warten.
Richard Marcus
© Qantara.de 2019
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff