Meilenstein der modernen arabischen Literatur
Adham Dschabir, ein arabischer Journalist und Lyriker mit britischem Pass, kehrt aus dem Exil in sein fiktives Heimatland Hamija zurück. Rund 20 Jahre zuvor war er geflohen, nachdem er als Mitglied einer oppositionellen linksgerichteten Untergrundorganisation ein Attentat mitgeplant hatte und verraten worden war.
Nach Stationen im Libanon und auf Zypern hat Adham Dschabir viele Jahre in Großbritannien gelebt, dort eine Familie gegründet und sich als Autor und Intellektueller einen Namen gemacht. Doch nun hält ihn nicht mehr viel in London, das er die „Grau-Rote Stadt“ nennt. Seine Ehefrau hat er verloren. In der Metropole wütet eine rätselhafte Epidemie. Überfüllte Krankenstationen, nach Luft ringende, Blut spuckende Menschen, maskierte Gesichter, X-Zeichen auf den Häusern von Infizierten: Die Schilderung der Zustände mutet apokalyptisch an und ähnelt teilweise den Bildern aus der Corona-Pandemie 2020/2021, obwohl das arabische Original des Romans von Nasser bereits 2010 veröffentlicht wurde.
Adham Dschabir hat das Gefühl, dass er sich beeilen muss, wenn er seine einstige Heimat Hamija noch einmal sehen will. „Mochte früher die Zeit dahinschleichen, über die Erde, durch deinen Körper, es hatte dich nicht gekümmert. Jetzt ist ihr Schlurfen unüberhörbar geworden.“
Rückkehr ohne Ankommen
Doch die Rückkehr wird für ihn kein wirkliches „nach Hause kommen“. Vater und Mutter sind während seiner langen Abwesenheit verstorben. Den Sohn plagen deshalb Schuldgefühle. Die daheimgebliebenen Geschwister haben sich über die Jahre ein eigenes Leben aufgebaut. Sie sind liebevoll, doch mangels gemeinsamer Erfahrungen müssen die Beziehungen erst wieder wachsen. Auch der Kontakt zu Adam Dschabirs Jugendliebe und erster Frau, Rula, bleibt oberflächlich. Rula ist längst mit einem anderen Mann verheiratet und hat Kinder. Bei einem mühsam arrangierten Treffen muss Adham resigniert zur Kenntnis nehmen, dass er und Rula einander kaum noch etwas zu sagen haben.
Nicht einmal der einst von ihm so gefürchtete Geheimdienst zeigt echtes Interesse an dem Rückkehrer. Er werde weiterhin beobachtet, teilt man Adham Dschabir bei einer Vorladung mit. Mehr nicht. Aber auch nicht weniger. Adham Dschabir realisiert, dass Hamija zwar äußerlich moderner, doch sozial und politisch nicht freier geworden ist. Die alten Kameraden haben auf die Entwicklung unterschiedlich reagiert: mit Rückzug, Selbstzerstörung, Hinwendung zur Religion oder Anpassung. Machmud, ein ehemaliger Kamerad (genannt „das lange Ende“), arbeitet seit einigen Jahren auf einem Posten in der staatlichen Medienbürokratie.
Während eines Kaffeehausgespräches nennt Machmud als Begründung für seine Kompromisse mit dem Machtapparat, man habe doch jetzt denselben Gegner – die Islamisten. Doch Adham Dschabir hält flapsig dagegen: „Schlimm bleibt schlimm, ob mit Rauschebart oder mit rasiertem Kinn. Und wegen einem Glas Bier muss ich mich nicht für das geringere von zwei Übeln entscheiden.“
Schaut man auf das Handlungsgerüst des Romans, so reiht sich die erzählte Geschichte in eine der vielen Erzählungen von Exil und Entfremdung in der arabischen Literatur ein. Doch „Wohin kein Regen fällt“ geht viel tiefer. Dieses Werk handelt nicht nur von der Sehnsucht nach politischer und gesellschaftlicher Emanzipation. Es ist auch eine gleichermaßen spielerische wie tiefschürfende Reflexion über Sprache und menschliche (Selbst)Erkenntnis, eingebettet in ein formales literarisches Experiment, das darauf abzielt, die Genres Lyrik, Roman und Essay zu verknüpfen und füreinander fruchtbar zu machen.
Der Protagonist und sein altes Selbst
Zentral ist dabei das Element des Perspektivwechsels: Amjad Nasser lässt den Protagonisten Adham Dschabir in Hamija auf sein altes Selbst treffen. Junis Al Khattat (Kalligraf) heißt der politische Aktivist, der Adham einst war, bevor er ins Exil ging. Nahezu über die gesamte Länge des Romans führen die beiden Alter Egos innere Monologe. Sie debattieren, streiten, stellen sich gegenseitig in Frage. Die Kommunikation zwischen Adham und Junis bildet den roten Faden des Buches - ein literarischer Kunstgriff, der das Lesen nicht einfacher macht, der aber mannigfache Spiegelungen und weitere faszinierende Erzählstränge ermöglicht, was dem Roman eine eigenartige Spannung und Tiefe verleiht.
Trotz seiner resignierten Stimmung und den Fremdheitsgefühlen zieht der Protagonist Adham Dschabir sich nicht komplett zurück. Eine innige Beziehung zu seinem Neffen, dem zehnjährigen Junis, wird zu seinem Anker in der Wirklichkeit. Adham Dschabir beginnt, sich mit Themen auseinanderzusetzen, die er verdrängt hatte: der Beziehung zu seinem verstorbenen Vater sowie dessen Leidenschaft für arabische Kalligrafie und islamische Mystik; dem Verhältnis zu Religiosität und Spiritualität. Gemeinsam mit dem kleinen Junis steigt er in den Keller des Familienhauses hinab und stößt dort auf Fotos des Vaters und auf Kalligrafien, die dieser einst angefertigt hatte. Die Szene im Keller wird zu einem Wendepunkt in Adham Dschabirs langem Prozess des Ankommens. Er, der als Jugendlicher kein Interesse an den Arbeiten seines Vaters hatte, beginnt nun, sich mit dessen Ideen und Kreationen auseinanderzusetzen – getrieben von dem Wunsch, seinen Vater posthum besser kennenzulernen.
„Wohin kein Regen fällt“ ist eine anspruchsvolle Lektüre – so anspruchsvoll, dass viele das Buch wohl zweimal lesen müssen, um folgen zu können. Mal fließen die inneren Monologe leicht dahin, selbstironisch, melancholisch, lakonisch, gespickt mit überraschenden Geistesblitzen, Bildern und Aphorismen; dann wieder muss man sich mit Zeit und Geduld durch philosophische Betrachtungen oder trockene historisch-politische Analysen arbeiten. Die Verschränkung der Motive, Stile und Formen kann anstrengend sein. Der Roman lässt sich keinem gewohnten Genre zuordnen. Diese experimentelle Haltung macht der Autor im Roman sichtbar, wenn er den Protagonisten sagen lässt: „Früher einmal warst du Dichter. (…) Jetzt bist du Autor von Prosastücken, die freilich noch immer durch die Unsicherheit und Ratlosigkeit einer lyrischen Weltsicht geprägt sind. Manches davon ist persönlich, anderes öffentlich, obgleich es dir schwerfällt, zwischen Privatem und Allgemeinem zu unterscheiden. Du klassifizierst nicht, was du schreibst“. (S. 37)
An anderer Stelle schreibt Adham Dschabir, er wolle sein Schreiben von allem befreien, „vor allem von Exkursen und Eigennamen“. Letzteres setzt er um, indem er Städte, Länder und historische Figuren nicht beim Namen nennt, sondern Umschreibungen wählt, die auf Sinneseindrücke, Ereignisse oder markante Eigenschaften abheben. So ist Zypern die „Stadt mit Blick auf das Meer“, Beirut die „Stadt des Krieges und der Belagerung“ und Bagdad die „Stadt Sindbads“. König Hussein von Jordanien ist „der Enkel“.
Wer mit der jüngeren Geschichte des Nahen Ostens vertraut ist, liest „Wohin kein Regen fällt“ vielleicht als politischen Schlüsselroman. Aber auch wer sich sonst nicht für nahöstliche Politik interessiert, wird durch dieses Buch bereichert. Ganz gleich, aus welcher Richtung man sich nähert: „Wohin kein Regen fällt“ ist ein Meilenstein der modernen arabischen Literatur.
© Qantara.de 2021
"Wohin kein Regen fällt" Roman von Amjad Nasser. Aus dem Arabischen ins Deutsche übersetzt von Regina Karachouli. Mit einem Nachwort von Elias Khoury. Lenos Verlag 2020