Die Türkei und Israel blicken nach Zentralasien

Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine werden die geopolitischen Karten im Nahen und Mittleren Osten neu gemischt. Dazu passt die Annäherung zwischen Israel, der Türkei und den Turkstaaten Zentralasiens. Von James M. Dorsey

Von James M. Dorsey

Bei einem Abendessen in Washington, veranstaltet vom einflussreichen stellvertretenden Vorsitzenden der Conference of Presidents of Major American Jewish Organizations, Malcolm Hoenlein, könnte es um mehr gegangen sein als um den bevorstehenden Besuch des israelischen Präsidenten Isaac Herzog in der Türkei. Herzog wird am 9. März in Ankara erwartet und soll die angespannten Beziehungen zwischen den beiden ehemaligen Verbündeten verbessern. An dem Abendessen nahmen die Botschafter Israels, der Türkei, Usbekistans und Kasachstans in den USA teil. Gastgeber war der Gesandte Aserbaidschans.

Ziel der abendlichen Gespräche war es, eine engere wirtschaftliche und sicherheitspolitische Zusammenarbeit zwischen Israel und jenen Turkstaaten auszuloten, die diplomatische Beziehungen zu Israel unterhalten. Das Abendessen ist nicht nur bemerkenswert, weil es im Vorfeld von Präsident Herzogs Türkeibesuch stattfand. Vielmehr trafen sich die Botschafter, weil der Krieg in der Ukraine die Türkei zwingt, sich zwischen der Nato und Russland zu entscheiden.

Ohnehin unternahmen die Türkei, Aserbaidschan und zentralasiatische Staaten bereits vor drei Monaten einen Anlauf, die Organisation der Turkstaaten (ehemals Kooperationsrat der Turksprachigen Länder) neu zu beleben.

Die Türkei ist zwar Nato-Mitglied, sie unterhält aber enge Beziehungen zu Russland und beschaffte sogar ein russisches Raketenabwehrsystem. Andererseits hat die Türkei die Besetzung der Krim durch Russland im Jahr 2014 verurteilt und unterstützt die von Russland angegriffene Ukraine durch eine intensivierte militärische Zusammenarbeit. Anfang Februar besuchte der türkische Präsident Erdoğan die ukrainische Hauptstadt Kiew. Sein Angebot, im Konflikt zwischen der Ukraine und Russland zu vermitteln, wurde jedoch von Moskau zurückgewiesen.

Ankara braucht bessere Beziehungen zu Israel

Mittlerweile hat der türkische Präsident erklärt, er wolle die Gespräche mit Israel über die Lieferung von israelischem Erdgas nach Europa gerne wieder aufnehmen. Denn nach dem russischen Angriff auf die Ukraine und den daraufhin verhängten Sanktionen des Westens könnte die Versorgung Europas mit russischem Gas gefährdet sein. Die Sanktionen könnten Russland im Gegenzug dazu bewegen, seine Gaslieferungen zu drosseln. Das könnte auch TurkStream betreffen, eine Gaspipeline, die von Russland unter Umgehung der Ukraine durch das Schwarze Meer in die Türkei führt, von wo aus das Gas in Richtung Balkan weitergepumpt wird.

Wegen Spionagevorwürfen verhaftet, weil sie ein Foto der Residenz von President Tayyip Erdogan während einer Reise nach Istanbul gemacht haben, Mordi und Natali Oknin sprechen zu den Medien in Israel am 18 November 2021, nach ihrer Freilassung (Foto: REUTERS/Ammar Awad)
Ein Touristenpaar in den Mühlen der Politik: Mordi und Natali Oknin wurden in der Türkei wegen angeblicher Spionage verhaftet. Allerdings nutzte die Türkei den Vorfall, um die Gespräche mit Israel über den Transport von israelischem Gas nach Europa schnell wieder aufnehmen zu können. Unmittelbar nach Freilassung der Touristen aus türkischer Haft wurden die seit langem unterbrochenen diplomatischen Kanäle zwischen der Türkei und Israel wieder geöffnet und der Weg für eine Annäherung zwischen beiden Ländern geebnet.

Mit der türkisch-israelischen Zusammenarbeit würde Erdoğan die Stellung der Türkei als Energie-Drehkreuz für Europa stärken. Aserbaidschan hat sich bereits dazu bereit erklärt, Europa notfallmäßig über die Türkei mit Gas zu versorgen, falls die russischen Lieferungen unterbrochen werden sollten.

Nach bestätigten Meldungen wird Herzog am 9. März als erster Präsident Israels seit 15 Jahren die Türkei besuchen. Der Bruder des Präsidenten, Michael Herzog, nahm in seiner Funktion als israelischer Botschafter in den USA an dem bereits erwähnten Abendessen in Washington teil.

Die Beziehungen zwischen Israel und der Türkei wurden 2010 eingefroren, nachdem ein israelisches Kommando zehn türkische Aktivisten auf einem Schiff getötet hatte, das als Teil eines internationalen Hilfskonvois die israelisch-ägyptische Blockade des Gazastreifens durchbrechen wollte.

Ein Telefonat zwischen den Außenministern Yair Lapid und Mevlüt Çavuşoğlu im Januar war das erste offizielle Gespräch zwischen beiden Ländern seit 13 Jahren. Die Freilassung eines israelischen Ehepaars, das zuvor wegen des Vorwurfs der Spionage verhaftet worden war, bot den Anlass für die türkisch-israelische Annäherung. Das Touristenpaar hatte Fotos vom Dolmabahçe-Palast aufgenommen, einem beliebten Ausflugsziel in Istanbul, das man aber nicht ablichten darf.

Der am Bosporusufer gelegene Palast diente bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts als Residenz der osmanischen Sultane und später auch als Istanbuler Residenz von Mustafa Kemal Atatürk, dem Gründer der modernen Türkei, der dort im Jahr 1938 starb.

Die Freilassung des Touristenpaars war auch Anlass für das erste Telefongespräch zwischen den Staatschefs der beiden Länder seit neun Jahren: Präsident Herzog und Premierminister Naftali Bennett riefen den türkischen Präsidenten Erdoğan jeweils getrennt an, um ihm zu danken.

 Kampfflieger fliegen in einer Formation über Abu Dhabi und zeigen die Farben der Türkei, rot und weiß, um die Bedeutung des Besuchs von Recep Tayyip Erdogan in den Vereinigten Arabischen Emiraten zu unterstreichen (photo: DHA).
Nachdem Ankara vergangenes Jahr inmitten seiner Wirtschaftskrise eine Charme-Offensive startete und die Vereinigten Arabischen Emirate sich auf eine Soft-Power-Politik verlegt haben, versuchen beide Mächte, ihre regionalen Rivalitäten beizulegen. Diese haben ihre Wurzeln nicht zuletzt in Differenzen über die Rolle des politischen Islam. Die VAE wollen ihr Wirtschaftswachstum nach der Pandemie eigenen Angaben zufolge verdoppeln. Als bedeutende wirtschaftliche Drehscheibe in der Region will das Land die seit langem bestehenden Differenzen mit der Türkei und dem Iran entschärfen. "Die VAE betrachten die wirtschaftliche Zusammenarbeit ... als wichtiges Instrument für einen besonnenen Umgang mit verschiedenen Problemen und für die Vermeidung von Eskalationen in unserer Region“, so Anwar Gargash, diplomatischer Berater des Präsidenten der VAE, in einem Twitter-Post anlässlich des Besuchs von Erdoğan.

Die rasche Freilassung der israelischen Touristen und Erdoğans Vorstoß dienten mehreren Zielen. Zunächst wollte der türkische Staatschef verhindern, dass der Vorfall die angesichts der schweren Wirtschaftskrise dringend benötigten Touristen abschreckt. Gleichzeitig sah er darin eine Gelegenheit, Kontakt mit Israel aufzunehmen und sich gegenüber den Vereinigten Arabischen Emiraten einen geopolitischen Vorteil zu verschaffen, den sie bis jetzt durch die engeren Beziehungen zu Israel hatten.

Aus Erdoğans Sicht machen die aktuellen Entwicklungen in der Ukraine nochmal besonders deutlich, wie wichtig gute Beziehungen zu Israel für ihn sind.

Eine neue Phase der Zusammenarbeit mit den Emiraten

Am 14. Februar besuchte Erdoğan die VAE als Teil der politischen Anstrengungen in der Region, die zahlreichen Differenzen und Konflikte so zu handhaben, dass sie nicht vollkommen außer Kontrolle geraten.

Muhammad bin Zayid, der Kronprinz von Abu Dhabi, würdigte den ersten Besuch des türkischen Präsidenten in den Emiraten nach fast zehn Jahren als den Beginn einer "fruchtbaren neuen Phase“ der Zusammenarbeit mit der Türkei. Die VAE sind der wichtigste Handelspartner der Türkei in der Golfregion.

Unterdessen berichtete die große, regierungsnahe türkische Tageszeitung Sabah kürzlich, der türkische Geheimdienst habe letzten Herbst ein geplantes iranisches Attentat auf den türkisch-israelischen Geschäftsmann Yair Geller vereitelt. Einige Kommentatoren vermuten, der Zeitpunkt der Enthüllung sei eine Reaktion auf israelische Forderungen an die Türkei, die Unterstützung der Hamas einzustellen, um so einen Beitrag zur Wiederannäherung an Israel zu leisten. Die islamistische Hamas kontrolliert den an Israel angrenzenden Gazastreifen.

Die Zeitung berichtete, weiter dass mehrere Verdächtige mit Verbindungen zum Iran verhaftet worden seien. Türkische Stellen vermuten, das versuchte Attentat sei eine Vergeltung für die Tötung des iranischen Atomwissenschaftlers Mohsen Fakhrizadeh im Jahr 2020 durch israelische Agenten.

 

 



Erdoğans geopolitischer Balanceakt

Für Erdoğan sind die Wiederannäherung an Israel und die Partnerschaft mit den Ländern des Kaukasus und Zentralasiens ein geopolitischer Balanceakt.

Denn er muss ein Gleichgewicht finden zwischen verbesserten Beziehungen zu Ländern wie Israel, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten auf der einen Seite und seinem Anspruch, als Führer der muslimischen Welt aufzutreten, der sich um seine Glaubensgenossen sorgt. Kritiker werfen Saudi-Arabien und den Emiraten vor, mit ihrer Annäherung an Israel die Anliegen der Muslime zu vernachlässigen und die Sache der Palästinenser aufzugeben.

So erklärte der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu kürzlich, dass "jeder Schritt, den wir in unseren Beziehungen zu Israel unternehmen, und jede Normalisierung nicht zulasten der palästinensischen Sache gehen wird, wie dies bei einigen anderen Ländern der Fall ist“.

Etwa zur gleichen Zeit erhob die Türkei allerdings Anklage gegen 16 Personen, die im letzten Herbst als mutmaßliche Mitglieder eines israelischen Spionagenetzwerks verhaftet worden waren. Israelische Geheimdienstquellen bestritten die Existenz eines solchen Netzwerks.

"Die Spionagevorwürfe Ankaras und die offensichtlichen Drohungen, um den Preis für die Inhaftierten nach oben zu treiben, ist Geiseldiplomatie mit unschuldigen Touristen. Genau so hat sich die von Ankaras regierender Partei unterstützte Hamas verhalten. (...) Normale Regierungen inhaftieren keine unschuldigen Menschen“, wetterte Seth J. Frantzman, Nahost-Korrespondent der rechtsgerichteten Zeitung Jerusalem Post, kurz nach den Verhaftungen im letzten Herbst.

James M. Dorsey

© Qantara.de 2022

Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers

James M. Dorsey ist mehrfach ausgezeichneter Journalist und Wissenschaftler sowie Senior Fellow am Middle East Institute der National University of Singapore.