Zwischen Mythos und Moderne

Es waren amerikanische Literaten, die den Mythos der Stadt Tanger im Nordwesten Marokkos als freizügig und gefährlich prägten. Aber auch jenseits des westlichen Blicks ist Tanger bis heute ein Ort zwischen den Kulturen und Kontinenten. Ein literarischer Streifzug durch eine Stadt im Wandel. Von Claudia Mende

Von Claudia Mende

Im Café Hafa ist die Zeit stehengeblieben. An den Mauern bröckelt der blau-weiße Putz. Ein paar junge Gäste sitzen auf den Plastikstühlen des Open-Air-Cafés und schauen verträumt aufs Meer, während in der Ferne die Containerschiffe durch die Meerenge von Gibraltar ziehen.

Von hier aus kann man das spanische Festland undeutlich in der Ferne erkennen. Europa ist zum Greifen nah und doch für die meisten Marokkaner unerreichbar. Stattdessen treffen sich die jungen Leute im vor fast hundert Jahren gegründeten Café Hafa. Es war der Lieblingsort des amerikanischen Schriftstellers Paul Bowles in Tanger. Hier saß er stundenlang, trank Minztee und schrieb an seinen Texten.

Nahtstelle zwischen Meeren und Kontinenten

Tanger ist ein Ort des Dazwischen, es liegt an der Nahtstelle zwischen Meeren und Kontinenten. Mittelmeer und Atlantik stoßen an der nordwestlichen Spitze Marokkos aufeinander. Nirgends sind sich Europa und Afrika näher: Nur 15 Kilometer trennen Marokko vom spanischen Festland. Schon früh von Phöniziern und Griechen bewohnt, ist Tanger der am längsten bewohnte Ort Marokkos, ein Zentrum des Handels und des Austauschs, oft aber auch ein umstrittener, strategisch wichtiger Zankapfel.

Der amerikanische Schriftsteller Paul Bowles kam um 1950 herum auf Empfehlung von Gertrude Stein in die Stadt, verliebte sich in ihre mediterrane Leichtigkeit und blieb bis zu seinem Tod im Jahr 1999. Er erlebte die wilden Zeiten während der internationalen Zone.

Von 1923 bis zur Unabhängigkeit Marokkos im Jahr 1956 stand Tanger unter internationaler Verwaltung. Neun europäische Mächte hatten hier gemeinsam das Sagen. Es waren goldene Zeiten für Schmuggler, Drogenhändler und Spione.

Viele Autoren aus den USA trieb es damals aus ihrer engen, prüden Heimat nach Tanger, wo man für wenig Geld leben, ungestört Kif (Haschisch) rauchen und billigen Sex jeder Art finden konnte. Die meisten gingen irgendwann wieder, Paul Bowles blieb, schrieb seine existentialistischen Erzählungen und Reiseberichte vom Überdruss an der westlichen Zivilisation und der aussichtslosen Suche nach etwas Besserem.

Verblasste Erinnerungen an Paul Bowles

Im American Legation Museum am Rande der alten Medina erinnern Filmplakate an "Himmel über der Wüste", die Verfilmung von Bowles Roman "The Sheltering Sky" durch den italienischen Star-Regisseur Bernardo Bertolucci. Schwarz-weiß Fotografien zeigen den melancholischen Individualisten bei der Arbeit an der Schreibmaschine und bei der Aufnahme traditioneller Musik. Denn Bowles, der nicht nur Autor, sondern auch Komponist war, hat sich anders als die meisten westlichen Schriftsteller für die Kultur des Landes interessiert. Er ist im Land herumgefahren und hat Tonaufnahmen volkstümlicher Musik gemacht, die heute die wichtigste ethnografische Sammlung lokaler Musik darstellen.

Schreibmaschine und Fotografien von Paul Bowles im American Legation Museum in Tanger; Foto: Claudia Mende
Zeitreise mit Beat-Autoren durch Tanger-Interzone: Im American Legation Museum zeigen Schwarz-weiß Fotografien den melancholischen Individualisten bei der Arbeit an der Schreibmaschine und bei der Aufnahme traditioneller Musik. Denn Bowles, der nicht nur Autor, sondern auch Komponist war, hat sich anders als die meisten westlichen Schriftsteller für die Kultur des Landes interessiert. Er ist im Land herumgefahren und hat Tonaufnahmen volkstümlicher Musik gemacht, die heute die wichtigste ethnografische Sammlung lokaler Musik darstellen.

Wenn man sich alte Bilder anschaut, dann hat sich in vielen der legendären Cafés, in denen die Boheme verkehrte, rein äußerlich nicht viel verändert.

Im heruntergekommenen Grand Café de Paris saßen in den 1950er und 1960er Jahren Schriftsteller wie Tennessee Williams, Jack Kerouac, Truman Capote und William S. Burroughs, die meiste Zeit von Drogen oder Alkohol benebelt, und diskutierten über Gott und die Welt. Heute sinnieren hier neben alten Männern vereinzelt auch Frauen vor sich hin. Ein Zettel an der gläsernen Eingangstür verbietet Laptops. Träumen, so scheint es, ist erlaubt, arbeiten verboten.

Mit ihren Texten haben die amerikanischen Schriftsteller Tanger ein Denkmal gesetzt, es aber gleichzeitig auch zu einer literarischen Fiktion verklärt. Reales und Fantasie vermischen sich zu einem Narrativ vom Orient als exotischer, sinnlicher Kulisse. Für das Leben der Einheimischen haben sie sich kaum interessiert. Tanger wurde zum Sehnsuchtsort für zivilisationsmüde Westler.

Einblicke in die älteste Buchhandlung von Tanger

Am Boulevard Pasteur, nur fünf Gehminuten vom Grand Café de Paris entfernt, befindet sich die älteste Buchhandlung von Tanger, 1949 gegründet. Die "Librairie des Colonnes" war von Anfang an immer auch ein Ort der Begegnung von Kulturschaffenden. Hier hat Paul Bowles seine Bücher bestellt. Heute ist es ruhig in der Librairie, Buchhändler Monsef Bouali ist allein und hat Zeit zu plaudern.

Er arbeite seit fast 30 Jahren in der Buchhandlung, sagt er. Ihn beschäftigten ganz andere Dinge als eine nostalgisch verklärte Vergangenheit. Die Buchhandlung kämpft wie überall auf der Welt damit, dass weniger gelesen wird.

Niemand sitze mehr in ein Buch versunken im Café, meint er etwas melancholisch. Außerdem seien Bücher teuer in Marokko. "Die jungen Dichter von heute haben es nicht leichter als die Zeitgenossen von Paul Bowles, ihre Bücher auf den Markt zu bringen."

Der Amerikaner hatte damals auch einheimische Autoren unterstützt. Er übersetzte die arabischen Texte ins Englische und stellte Kontakte zu Verlagen her. Die Unbekannten von damals wie etwa Mohammed Choukri, gelten heute als Klassiker der modernen marokkanischen Literatur.

Nur in Tanger konnte der kettenrauchende Berberjunge Mohammed Choukri seinen autobiografischen Skandalroman "Das nackte Brot" schreiben, eine radikale Abrechnung mit Armut, Unwissenheit und familiärer Gewalt. Der Roman löste einen Skandal aus, als er 1982 auf Arabisch erschien. Heute gehört Choukri mit Bowles zu den berühmten Söhnen der Stadt Tanger. Ob so ein radikaler Roman wohl heute noch erscheinen könnte?

Liberales kulturelles Klima

"Auch heute noch ist das kulturelle Klima in der Stadt liberal", meint Bouali. "Bücher zu heiklen Debatten wie etwa der Streit um das islamische Erbrecht in Marokko werden stark nachgefragt", egal ob sie auf Französisch oder auf Arabisch geschrieben wurden. Asma Lamrabet, die bekannte Feministin werde viel gekauft, genauso wie Abdellah Taïa, ein in Frankreich lebender Autor, der offen über seine Homosexualität schreibt.

Das Tor zur alten Medina in Tanger; Foto: Claudia Mende
TAnger zwischen mythenreicher Vergangenheit und pulsierender Moderne: Der Charakter der Stadt hat sich seit den Zeiten von Bowles und Mohammed Choukri massiv verändert. Der zwischenzeitliche Stillstand der Stadt ist mittlerweile überwunden, es ist heute eine neue Aufbruchstimmung spürbar. Tanger ist zu einer wichtigen Drehscheibe im Handel zwischen Europa, Afrika und Asien geworden.

Als wichtige Autoren der jüngeren Generation nennt er den Journalisten Abdeslam Kadiri, der ein Buch mit Gesprächen mit dem 2007 in Frankreich verstorbenen Autor Driss Chraibi herausgegeben hat. Auch Chraibi hatte in seinen Romanen verkrustete Gesellschaftsstrukturen thematisiert. Außerdem erwähnt er noch Mohammed Mgharbi, der einen Roman über seine Heimatstadt mit dem Titel "A Tanger dans le bec de la pie" geschrieben hat (2018).

Der Charakter der Stadt hat sich seit den Zeiten von Bowles und Mohammed Choukri massiv verändert. Mit der Unabhängigkeit Marokkos von Frankreich 1956 wurde die Stadt Teil des Landes. Viele Amerikaner und Juden zogen weg. Unter König Hassan II. fiel Tanger in die Bedeutungslosigkeit. Erst Mohammed VI. hat ihre Chancen an der Nahstelle zwischen Afrika und Europa neu erkannt und massiv investiert.

Durch den Containerhafen Tanger Med, den größten im gesamten Mittelmeerraum, und eine Freihandelszone, in der europäische Investoren wie der Automobilkonzern Renault produzieren, sind zahlreiche Arbeitsplätze entstanden. Investoren kaufen alte Häuser auf, neue Hotels kamen dazu, die Hafenpromenade wurde neu gemacht für die Touristen, ein Yachthafen soll Reisende im Luxussegment anziehen. Seit der Jahrtausendwende ist Tanger arabischer und islamischer geworden, vor allem durch den Zuzug von konservativen Bewohnern aus der ländlichen Rif-Region. Auch Tanger hat heute eine breite salafistische Szene.

Neue Aufbruchstimmung in Tanger

Aber der Stillstand ist überwunden, es ist eine neue Aufbruchstimmung in der Stadt. Heute ist Tanger eine wichtige Drehscheibe im Handel zwischen Europa, Afrika und Asien. "Tanger, ca bouge", sagt Khadija al-Hemam in ihrer Wohnung voller Erinnerungen in der alten Kasbah, "in Tanger geht etwas voran."

Die 83-Jährige war eine der ersten Frauen beim marokkanischen Film, sie hat als Kostümbildnerin bei so vielen Produktionen mitgearbeitet, dass sie sich nicht mehr an alle erinnern kann. Nur bei Bertoluccis "Himmel über der Wüste" hatte sie sich den Arm gebrochen und konnte nicht mitarbeiten. Wie so viele Tangerinos wechselt Al-Hemam beim Reden ständig zwischen Arabisch, Englisch und Französisch hin und her. Sie findet die Entwicklung Tangers zwiespältig. Sie hat Angst, das Tanger zu verlieren, in dem jeder seinen Nachbarn kennt, Konfession keine große Rolle spielt und man auf die Alten schaut, dass sie zurechtkommen.

Sie hat die Zeit der Miniröcke und des Rock n Roll miterlebt, es war ihre Jugend. Heute tragen auch in Tanger viele Frauen ein Kopftuch. Trotzdem ist sie davon überzeugt, dass Tanger eine liberale Stadt bleiben wird. "Ein enger islamischer Lebensstil wird das Herz Tangers niemals erobern", meint sie.

Ihre Tochter Soumaya Akaaboune, 46, pflichtet ihr bei. Akaaboune ist eine bekannte Schauspielerin in Marokko, sie ist nach Jahren im Ausland zurückgekehrt in die Heimat. Dieses Jahr im März war sie Mitglied der Jury des Internationalen Filmfests in Tanger, das noch kurz vor der Corona-Krise stattgefunden hat. Auch sie glaubt an den unzerstörbaren Charakter Tangers, an eine besondere Prägung zwischen den Kulturen und Kontinenten. "Für uns ist immer alles offen", sagt sie. "Tanger bleibt ein Ort des Transits, an dem die Menschen immer in Bewegung sind."

Claudia Mende

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