"Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner schaut hin"
Die Menschen schlafen, und wenn sie sterben, erwachen sie", lautet ein bekannter Ausspruch von Ali Ibn Abi Talib, dem Schwiegersohn des Propheten und vierten Kalifen des Islam. Dieses bei den Sufis, den islamischen Mystikern, beliebte Zitat ist Teil des auf vorislamische Zeiten zurückgehenden geistigen Hallraums, in dem auch die Selbstmordattentäter von Paris operierten: Das Leben ist letzten Endes doch nichts wert, nur das Heil im Jenseits zählt. Wer an das Jenseits nicht glaubt, könnte nach dem Pariser Terror freilich geneigt sein, die Weisheit Alis ein wenig anders zu verstehen: Wie viel Mord muss noch sein, bis Europa erwacht?
Europa hat lange, tief und fest geschlafen. Unfassbar lang. Wie ein leises, aber letztlich nicht weiter besorgniserregendes Störgeräusch haben wir die zwei- oder dreihunderttausend syrischen Kriegstoten in unseren Traum aus beinah grenzenloser Freiheit, aus Wohlstand und Wachstum eingebaut. Selbst die noch lebenden Abgesandten dieser Toten, die Flüchtlinge, haben uns nicht wachrütteln können. Selbst sie glaubten wir noch in unseren Schlaf "integrieren" zu können.
Und wie hätte, was nicht einmal ihnen gelang, den einhundert Toten von Ankara gelingen können, die ebenso sehr wie die Pariser für Freiheit, europäische Werte und eine offene Gesellschaft standen? Ganz zu schweigen von den über zweihundert russischen Touristen oder den fünfunddreißig Opfern in einem von der Hisbollah kontrollierten Viertel in Beirut. Gewiss wurde nach dem Wachrütteln in Gestalt der Anschläge auf Charlie Hebdo empört die Störung beklagt; aber dann doch wieder die Schlummertaste gedrückt, als wüsste man nicht genau, dass der Alarm in immer kürzerem Abstand doch wieder losgeht. Die Europäer schlafen. Und selbst wenn sie sterben, erwachen sie nicht.
Globalisierung nicht ernst genommen
Der Krieg, von dem nun auf einmal, endlich, zu sprechen gewagt wird, tobt seit Langem. Aber es geschah, was die auch mir einst liebe Friedensbewegung in den Siebziger- und Achtzigerjahren stets erträumt hatte: "Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin."
Wäre die europäische Öffentlichkeit auf der Höhe der Ereignisse gewesen, die sich seit bald fünf Jahren in ihrer Nachbarschaft und an ihren Grenzen vollziehen, hätten wir jetzt ein wenig mehr von dem geistigen Rüstzeug und der Reife, die nötig sind, um klug zu reagieren.
Hätten wir die Globalisierung, von der alle meinten, sie hätten sie längst verinnerlicht und verstanden, ernst genommen (die Überwindung der Grenzen, die Aufhebung von Raum und Zeit durch die neuen Kommunikationsmittel) - man hätte es viel schwerer gehabt, so zu tun, als läge Aleppo auf einem anderen Stern; als sei das von Erdoğan als nicht weiter dramatisch abgetane Massaker von Ankara nicht eines an Europas Werten und denen, die sie in der Türkei mittlerweile unter Einsatz ihres Lebens noch vertreten; als sei es nicht wahrscheinlich nur Zufall, dass die Bombe von Scharm el-Scheich in eine russisches, nicht ein westliches Flugzeug geschmuggelt wurde.
Und genau so ist es uns heute, nach Paris!, immer noch egal, wenn von Pakistanern geflogene, im Westen gebaute, von westlichen Waffenproduzenten bestückte, von amerikanischen Satellitenbildern ihre Ziele erhaltende, von Saudi-Arabien losgeschickte Kampfflugzeuge den Jemen vom Mittelalter in die Steinzeit bomben. Man ist wohl nur froh, dass die Jemeniten einfach zu arm sind, die Menschenschmuggler zu bezahlen, die sie nach Europa brächten. So schaffen sie es nur bis Äthiopien oder in den Sudan, oder allenfalls, sofern sie Glück haben, bis nach Israel, wo sie dann von Israelis mit palästinensischen Messerstechern verwechselt und gelyncht werden. All dies ist vorgekommen und wird weiterhin vorkommen.
Nur man wundert sich dann doch, dass die, die nun für die Pariser Opfer zu sprechen glauben, so inständig betonen, dass die Ermordeten doch nur ein wenig Spaß haben und feiern wollten, einfach ein bisschen das Leben genießen, fast als wollten sie ihnen noch ins Jenseits nachrufen, sie seien im Schlaf ermordet worden.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Nicht die Lebensart, die vermeintlich attackiert wurde, nicht der Spaß, nicht das Feiern sind das Problem. Das Problem ist auch nicht das recht exklusive "Wir", das hier seine Lebensart einklagt und das vermutlich mehr von "Freiheit" als von "Gleichheit" und "Brüderlichkeit" versteht. Das Problem ist das unglaubliche Staunen, das Nicht-wahrhaben-Wollen, dass auch wir, die doch nur das Leben im Diesseits genießen wollen, in dieser Welt leben, und dass diese Welt eine einzige Welt geworden ist, unteilbar, ohne Grenzen, globalisiert eben leider auch in Sachen Gewalt, Unterdrückung, Verfolgung.
Fragwürdige "heroische Gelassenheit"
Dieses Wissen, die Ahnung davon zumindest, hätte man den Deutern der Gegenwart doch zugetraut und gewünscht, und es fällt schwer, angesichts einer solchen freiwilligen Ignoranz nicht von einer Infantilisierung unserer Öffentlichkeit, oder sagen wir fairerweise: unseres Bildes dieser Öffentlichkeit zu reden. Und immer noch wird von vielen Politikern, Medien und Kommentatoren die Linie vertreten, über kurz oder lang seien mehr oder weniger die alten Verhältnisse wiederherzustellen. Herfried Münkler etwa, der sich mit Kriegen auskennt, lobte letzte Woche in der Süddeutschen Zeitung das schnelle Vergessen sogar als Haltung "heroischer Gelassenheit". Die Menschen schlafen. Und wenn sie sterben, erwachen sie immer noch nicht.
Doch warum eigentlich nicht? Nur Manisch-Depressiven muss das Aufwachen wie ein Verlust erscheinen. Alle anderen wissen den höheren Realitätsgehalt, das geschärfte Bewusstsein womöglich zu schätzen. Und nichts darin bedeutet einen Verlust an Lebensart, welcher auch immer. Selbst im Blitz wird es Partys geben - um den Buchtitel von Elias Canettis Aufzeichnungen aus dem London in der Zeit der deutschen Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg aufzugreifen. Aber man müsste dann nicht bei jeder geheimdienstlich kolportierten Gefahrenlage Veranstaltungen absagen, da diese Gefahr als permanent existierende erkannt und anerkannt ist.
Was es aber dann nicht mehr geben kann - und seit dem 11. September 2001 ohnedies nur mithilfe beträchtlicher Autosuggestion gab -, ist die Selbstgenügsamkeit, das Gefühl, sich heraushalten zu können, das Gefühl von Normalität und business as usual. Dies ist ein Gefühl, das sich besonders die Deutschen angewöhnt hatten; und auch Osteuropa, russischer Besatzung und permanenter Notlage noch nicht lange genug entronnen, glaubt nun, sich dieses Gefühl verdient zu haben - und sucht sich daher trotzig auf Kosten der Flüchtlinge zu verteidigen.
Der Terror kommt nicht aus heiterem Himmel
Anzuerkennen, das wir an der Peripherie eines großen, auch uns unweigerlich einholenden Krieges leben, ist viel sinnvoller, ehrlicher, realistischer, als darin nur willkürlichen Terror zu sehen, dem wir blind ausgeliefert sind. Anzuerkennen, Teil eines Krieges zu sein, bedeutet im Übrigen keine Entscheidung über die Mittel, wie er zu führen ist.
Krieg, das heißt nicht automatisch Bodentruppen, Nobilitierung des IS als gewöhnlicher Kriegspartei und dergleichen, was mit Recht die wenigsten wollen. Es heißt aber: Bruch mit der herrschenden Austeritätspolitik in Europa und das Eingeständnis, dass die Kriege im Nahen und Mittleren Osten auch unsere Kriege sind, ob wir dies nun wollen oder nicht.
Diese Einsicht, in einem Krieg zu stehen, wäre damit überhaupt erst die Grundvoraussetzung dafür, sich über die Verwendung so freigesetzter Mittel auf intelligente Weise Gedanken zu machen und nicht weiterhin in den offensichtlich impotenten Kategorien von Terrorabwehr zu denken, die das einschränken, was sie zu schützen vorgeben: unsere Freiheit.
Stefan Weidner
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