Gestickte Botschaften aus Palästina
"Tatreez" ist immer Frauen vorbehalten gewesen. Wie kann dieses Handwerk zum Prozess der Befreiung von palästinensischen Frauen beitragen?
Fatima Abbadi: Es ist ein sehr mächtiges Instrument. Vor dem Exodus der Palästinenser nach der Gründung des Staates Israel 1948 spielten Frauen in der palästinensischen Gesellschaft eine starke und unabhängige Rolle. Frauen wurden respektiert. Und die Art und Weise, wie ihre Kleider bestickt waren, spiegelte ihre Position wider. Oft wurden luxuriöse Materialien benutzt, wie Seide, Leinen oder Brokat aus Syrien, die mit Fäden aus Gold oder anderen wertvollen Metallen bestickt wurden. Damals besuchten Mädchen und Frauen Schulen und Universitäten, sie reisten viel und gingen in die Oper oder ins Kino. Sie sammelten sogar Gelder und verteilten Lebensmittel während der arabischen Revolte in den 1930er Jahren.
Nachdem die Palästinenser in Flüchtlingslager vertrieben worden waren, fanden sich die Frauen - in den meisten Fällen zum ersten Mal - plötzlich in der Position wieder, dass sie eine Anstellung brauchten, um ihre Familien finanziell unterstützen zu können. Da "Tatreez" ja ein angesehenes Handwerk von Frauen war, gründeten viele von ihnen "Tatreez"-Werkstätten, um damit Geld zu verdienen. Es ging also nicht nur darum, "Tatreez" an die jüngere Generation weiterzugeben, sondern auch darum, Unabhängigkeit und Selbständigkeit zu erlangen.
Wie hat dieser historische Wandel "Tatreez" verändert?
Abbadi: Die Entwurzelung war für palästinensische Frauen sehr schwierig - und dadurch ist die Entwicklung der Stickerei quasi stehengeblieben. Da die Frauen nun eine aktivere Rolle in der Gesellschaft einnehmen mussten, hatten sie weder die Zeit noch die Geldmittel, um Luxuskleider für sich selbst zu besticken.
Erst in den 1960er Jahren kam "Tatreez" wieder auf. Aber in einer völlig anderen Form: Baumwollfäden und billige Materialien hatten Luxusmaterialien ersetzt, was die gesellschaftliche und wirtschaftliche Lebensrealität der Palästinenser widerspiegelte. Die Frauen konnten sich auch nicht mehr so viel Zeit für die Stickereien nehmen – so erschienen nun auch simple geometrische westliche Muster.
Im Gegensatz zu westlicher Mode hat jedes "Tatreez"-Muster eine bestimmte Bedeutung für die Trägerin und diejenigen, die diese Bedeutung erkennen können. Welche Geschichten erzählen uns diese Muster?
Abbadi: Sie symbolisieren Gesundheitszustand, Reichtum, Schutz und Familienstatus. Die Muster variieren natürlich auch stark von Region zu Region. In Ramallah zum Beispiel sieht man Motive von Zypressen, Palmen und Federn auf hellem oder schwarzem Leinen. Ein großes hängendes Muster auf der Brust ist typisch für den Gazastreifen. Paschazelte und Monde auf einem dunkelblauen Kleid sind typisch für die Region um Hebron.
Bethlehem war mal als palästinensisches Modezentrum bekannt, wo sich verschiedene Techniken aus der Türkei, Griechenland und Iran mit den lokalen Symbolen von Rosen und Apfelbaumästen vermischten.
In Galiläa, also einem Landstreifen unter syrischem und libanesischem Einfluss, wurden Kleider weniger bestickt, weil die Frauen dort zusammen mit Männern auf den Feldern arbeiteten.
In Ihrer Fotokollektion betonen Sie den Stellenwert von "Tatreez" als "soziales Netzwerk". Wie kamen Sie zu dieser Einschätzung?
Abbadi: Diese Art von Kommunikation hat ihre Wurzeln in den späten 1980er Jahren. Während der Ersten Intifada, also dem Palästinenseraufstand gegen die israelische Besetzung der West Bank und des Gazastreifens, war das Zeigen der palästinensischen Flagge verboten, da dies als Gefährdung der öffentlichen Ordnung angesehen wurde.
Nun kam Frauen eine wichtige Rolle im politischen Widerstand zu, indem sie eine neue Form von visueller Kommunikation schufen. Sie kombinierten traditionelle "Tatreez"-Motive mit Emblemen wie Flaggen, Landkarten oder politischen Slogans.
Es war ein Zeichen von Protest und Solidarität, das Symbol einer politischen Einstellung - so ähnlich wie das, was heutzutage #MeToo und #TimesUp repräsentieren.
[embed:render:embedded:node:30581]Aber selbst heutzutage verbindet "Tatreez" Menschen miteinander. Man findet es quasi überall, auf Schuhen und Taschen, Kissen, Tischdecken, Lampen, Spiegelrahmen und Bechern. Bestickte Kleider hängen in Museen, und viele arabische Popstars, wie zum Beispiel Rim Banna, tragen "Tatreez"-Kleidung bei ihren Konzerten.
Eines der immer wieder aufkommenden Themen, die Sie in Ihren Publikationen behandeln, ist die "Verwestlichung" des Nahen Ostens. Inwiefern hat die Globalisierung auch "Tatreez" beeinflusst?
Abbadi: Verwestlichung und Modernisierung sind wichtige Prozesse, die beide zum gegenwärtigen Zustand von "Tatreez" beigetragen haben. Die junge Generation palästinensischer Modeschöpfer führt nun neue Formen ein und kombiniert traditionelle Muster mit europäischen Stilrichtungen. Und aufgrund des technologischen und sozialen Fortschritts können palästinensische Frauen inzwischen ihre Stickarbeiten auch in großem Rahmen exportieren.
Aber die Globalisierung hat auch ihre Kehrseite: Die meisten Menschen haben es verlernt, "Tatreez"-Muster zu lesen, also die Bedeutung der Farben, Muster und Symbole zu erkennen. Heutzutage konsumieren die jungen Leute die bildliche Darstellung nur noch oberflächlich. Das Ergebnis dieser Entwicklung ist, dass sie nicht in der Lage sind, die Komplexität der Stickerei zu erkennen. Gleichzeitig haben viele berühmte westliche Modemarken "Tatreez"-Muster benutzt, ohne die ursprüngliche Quelle zu benennen. All dies bedroht heute diese traditionelle Kultur.
Das Interview führte Jan Tomes.
© Deutsche Welle 2018
Die Fotografien von Fatima Abbadi zum Thema "Tatreez" werden gegenwärtig in der Vrije Universiteit Amsterdam ausgestellt.