Mit der Faust durch die Glasscheibe

Mit seinen über einhundert politischen Karikaturen bietet der Band "White and Black: Political Cartoons from Palestine" einen komplexen und oft surrealistischen Einblick in die täglichen Kämpfe der Bewohner der West Bank und des Gazastreifens. Von Marcia Lynx Qualey

Von Marcia Lynx Qualey

In seiner Einleitung zu Saba'anehs Buch schreibt der Karikaturist und Herausgeber Seth Tobocman, die Aufgabe eines Karikaturisten bestehe darin, "komplexe politische Sachverhalte so zu erklären, dass noch der schlichteste Mensch sie versteht."

Saba'aneh, der regelmäßig für eine palästinensische Tageszeitung zeichnet, kondensiert nicht selten komplexe Probleme zu kurzen, mundgerechten Botschaften. In einer sehr eindeutigen Szene beispielsweise zeigt er einen Häftling hinter einer Glasscheibe, auf deren anderer Seite seine Frau und sein kleines Kind sitzen. Wie in einem Realität gewordenen Wunschtraum durchstößt der Gefangene mit der Faust die Glasscheibe, um die Stirn seines unglücklichen Kindes streicheln zu können. Die Botschaft ist klar: die sogenannte Verwaltungshaft fügt Familien Leid zu.

Alles Lüge?

Saba'aneh saß selbst 2013 in einem israelischen Gefängnis und beschreibt in seinen Vorbemerkungen, wie diese Erfahrung seine Zeichnungen verändert hat: "Ich hatte früher Tausende Häftlinge als Helden gezeichnet, aber im Gefängnis fühlte ich mich vollkommen machtlos. Da ich unfähig war, mich selbst als heldenhaft darzustellen, kapitulierte ich vor meinen Schwächen, denn wir alle lieben, vermissen, fürchten uns und empfinden Schmerz. Ich musste mich der unausweichlichen Frage stellen: War alles, was ich zeichnete, eine Lüge?"

Doch seine Selbstzweifel hinderten Sabaaneh nicht daran, neue Karikaturen zu zeichnen. Heimlich "schmuggelte ich mit jedem Häftling, der entlassen wurde, unfertige Skizzen hinaus. Als ich selbst entlassen wurde, sammelte ich meine Skizzen wieder ein und zeichnete die Karikaturen fertig."

Cover of Mohammad Sabaaneh′s "White and Black: Political Cartoons from Palestine" (published by Just World Books)
Saba'anehs künstlerisches Selbstverständnis erfuhr 2013 einen schweren Schlag, als er fünf Monate im Gefängnis saß: "Ich hatte früher Tausende Häftlinge als Helden gezeichnet, aber im Gefängnis fühlte ich mich vollkommen machtlos. Da ich unfähig war, mich selbst als heldenhaft darzustellen, kapitulierte ich vor meinen Schwächen, denn wir alle lieben, vermissen, fürchten uns und empfinden Schmerz. Ich musste mich der unausweichlichen Frage stellen: War alles, was ich zeichnete, eine Lüge?"

Saba'aneh wuchs nicht in Palästina auf. Er verbrachte seine Jugend in Kuwait, und seine Familie ging erst kurz vor der zweiten Intifada im September 2000 nach Palästina zurück. 13 Jahre später fand sich der Künstler in einem israelischen Gefängnis wieder. Die Anklage lautete auf "Kontakt zu einer feindlich gesinnten Organisation". Dieser "Kontakt" war allem Anschein nach der Abdruck von mehreren seiner Karikaturen in einem Buch seines Bruders, einem Mitglied der Hamas.

Die fünfmonatige Haft, darunter zwei Wochen Einzelhaft, war der bislang massivste Versuch, Saba'anehs Arbeit zu sabotieren. Aber dabei blieb es nicht. Einmal musste Saba'aneh für zehn Tage seine Arbeit als Hauskarikaturist bei der Tageszeitung ruhen lassen, weil diese eine Karikatur veröffentlicht hatte, die einige Leser als Verunglimpfung des Islam empfanden.

Die aussagekräftigsten Zeichnungen in "White and Black" sind nicht die einfachen Zeitungskarikaturen, sondern seine dichten, vielschichtigen und ausgesprochen detailreichen Arbeiten. Tobocman schreibt in seiner Einleitung, Saba'anehs Werk erinnere ihn gelegentlich an Guernica. Tatsächlich sind auf vielen der besten Zeichnungen Menschen abgebildet, die auf engem Raum zusammengepfercht und von Mauern, Stacheldraht und verzerrtem Kriegswerkzeug umgeben sind. Oft haben die Figuren - Israelis wie Palästinenser - leere, pupillenlose Augen und ausgezehrte, wie versteinerte Gesichter.

Hauptdarsteller: Die Sperranlage

Ein Kennzeichen der im Buch versammelten Zeichnungen sind die immer wiederkehrenden Bildelemente, und das stärkste von ihnen sind die leicht erkennbaren grauen Platten der israelischen "Sperranlagen". Im Jahre 2002, nur zwei Jahre nach der Rückkehr von Saba'anehs Familie nach Palästina, begann der israelische Staat mit dem Bau einer Mauer. Manchmal trennt die Mauer israelische Viertel von palästinensischen, aber sie umschließt auch palästinensische Ortschaften und trennt Palästinenser von Palästinensern.

Die Bildunterschriften arbeiten häufig zu stark mit Reduktion und stören eher das Verständnis der Bilder. So zeigt die Karikatur mit dem Titel "Unterbrochene Leben" Mauern in sehr kleinen Abschnitten, die menschliche Leben trennen, während "Die Mauer belagert alles" von Wänden eingekreiste Menschen, Tiere, Bäume und Himmel in winzigen Schachteln darstellt. Die Menschen kauern auf dem Boden, die Arme um die Knie geschlungen. Sogar ein Soldat hat Mühe, sich mit seinem Gewehr in den kleinen, ummauerten Raum zu zwängen.

In einer anderen Zeichnung ragt die Mauer im Hintergrund auf, während sich Frauen und Männer mit den für Saba'aneh so typischen skelettartigen Gesichtern an den Händen halten und die Dabke tanzen. Ihre Füße sind aneinander gekettet und zwischen ihnen befindet sich ein Checkpoint.

Doch es gibt auch anrührende mehrteilige Karikaturen. Auf einer von ihnen beobachtet ein Junge zuerst einen Vogel, der über die Mauer fliegt. Danach schwebt sein Drache darüber. Während der Junge dem Drachen nachblickt, stellt er sich vor, er sei kein unbelebter Gegenstand, sondern ein Vogel an einer Schnur, die er hinter der Mauer in der Hand hält. Der Junge schneidet die Schnur durch und lässt den Drachen frei, damit er über die Mauer hinwegfliegen kann.

Schwarze Bänder: Erinnerung und Fessel

Ein weiteres wiederkehrendes Bild sind die schwarzen Bänder über Fotografien von Toten. Von den Porträts ausgehend, winden sie sich um Tauben oder ersticken die Lebenden. Einmal entrollt sich aus dem Porträt eines Mannes ein gewaltiges schwarzes Band, das sich um den Hals einer Frau schlingt, einem Jungen die Hände fesselt, sich einem anderen Kind über die Augen legt, einem Mädchen die Haare verknäuelt, einem Vogel den Schnabel zubindet, und sogar die Zeiger einer Uhr umwickelt.

In einem anderen Zeichnung mit dem Titel "Familienfotos" ziehen sich die schwarzen Bänder nicht nur um die Fotos, sondern auch um einen Fisch, einen Pinsel, einen Baum und Wäsche auf der Leine, alles offensichtlich leblos. In "Vergangenheit und Gegenwart kämpfen um die Zukunft" wird das schwarze Band an der Ecke des Porträts zu einem tropfenden Wasserhahn: die Hinterbliebenen ertrinken in einer schwarzen Flüssigkeit.

Gemeinsam in der Falle: Besatzer und Besetzte

In seiner Einführung schreibt Sabaaneh, seiner Ansicht nach werde "im Prozess der Ausübung seines politischen Willens der Besatzer zum Besetzten". Und er fügt hinzu: "In manchen meiner Zeichnungen sind Besatzer und Besetzte schwer auseinanderzuhalten".

In einer der Karikaturen, die den unzweideutigen Titel "Wir sind alle Geiseln des Ortes" trägt, sind Besatzer und Besetzte gemeinsam in einer Glasflasche gefangen, die von einem Soldatenstiefel zugestöpselt ist. In einer anderen zählen sowohl ein Aufseher auf seinem Wachturm als auch die Menschen darunter ungeduldig die Minuten, denken an ihre Angehörigen, wünschen sich, die Farce wäre vorbei und sie könnten in ihre jeweiligen Leben zurückkehren. 

Saba'anehs Karikaturen sind ein unüberhörbarer Ruf nach einer anderen Zukunft, in der sowohl Besatzer wie Besetzte aus ihren derzeitigen Mustern und Rahmen ausbrechen, Mauern und Bänder hinter sich lassen und endlich ein freieres Leben beginnen können.

Marcia Lynx Qualey

© Qantara.de 2018

Übersetzung aus dem Englischen von Maja Ueberle-Pfaff

Eine europäische Ausgabe von "Palestine in Black and White" erschien am 26. Februar 2018 bei Saqi Books, London.