Eine schwere Geburt
Die Erschöpfung steht den Parlamentariern ins Gesicht geschrieben. "Das ist wie eine Geburt: es ist sehr schmerzhaft, aber am Ende sind alle glücklich, wenn das Kind endlich da ist", lacht Mehrezia Laabidi. Die Ennahdha-Abgeordnete und Vize-Vorsitzende der tunesischen Verfassungsversammlung hatte in den vergangenen Wochen unzählige Stunden Plenarsitzungen geleitet und sich dabei nicht selten an den Rand der Heiserkeit geschrien, um Ruhe zu schaffen, wenn die mehr als 200 Abgeordneten sich lautstarke Diskussionen über das künftige Grundgesetz des Landes lieferten. Am Sonntag (26.01.2014) hat die Nationalversammlung über den Text abgestimmt, das Werk wurde mit mehr als der notwendigen Zwei-Drittel-Mehrheit gebilligt.
Die tunesische Verfassung war tatsächlich eine schwere Geburt. Erbitterte Debatten über Religionsfragen, Frauenrechte und die Unabhängigkeit der Justiz sorgten für massive Spannungen zwischen den Abgeordneten. Doch am Ende einigten sich Konservative und Liberale, auch weil die konservative Mehrheit des Parlaments in einigen Schlüsselfragen nachgab. Der Wille zum Konsens führt jedoch dazu, dass der fertige Text in vielen Punkten widersprüchlich ist.
Zankapfel Religion
Einer der größten Streitpunkte war bis zum Schluss die Rolle der Religion im neuen Tunesien. Während die Präambel und Artikel 1 der Verfassung zwar den Islam erwähnen, ohne auf seine Bedeutung für den Staat einzugehen, wird der Text an einigen Stellen konkreter. Artikel 6, der zunächst abgelehnt und dann nach mehrfachen Veränderungen doch noch verabschiedet wurde, garantiert Glaubens- und Gewissensfreiheit, um jedoch nur einen Halbsatz später festzulegen, dass der Staat das Heilige beschützt.
Für Amira Yahyaoui, der Präsidentin der Nichtregierungsorganisation "Al-Bawsala", der tunesischen Variante von "Abgeordnetenwatch", ist dies das perfekte Beispiel für den widersprüchlichen Charakter des Gesamttextes. "Religionsfreiheit und Schutz des Heiligen passen nicht zusammen", sagt sie. Im Gegensatz zur Religionsfreiheit stehe auch, dass der zukünftige Staatspräsident Muslim sein muss. "Das ist eine schizophrene Verfassung, wo eine Sache und ihr Gegenteil drinstehen, damit am Ende alle zufrieden sind", sagt die Verfassungsrechtlerin Salwa Hamrouni. Für die Richter am zukünftigen Verfassungsgericht sei das Grundgesetz eine echte Herausforderung.
Fortschritte für die Rechte der Frauen?
Neben der Rolle der Religion in der Verfassung beobachteten die Tunesier mit Spannung, wie das Thema Gleichstellung im neuen Grundgesetz umgesetzt wird. Bereits 1956, direkt nach der Unabhängigkeit, wurden in Tunesien Frauen weitgehend gleichgestellt, sie durften wählen gehen und die Scheidung einreichen. Lediglich das islamische Erbrecht, in dem Söhnen höhere Anteile als Töchtern zustehen, wurde beibehalten.
Viele Mitglieder der tunesischen Zivilgesellschaft fürchteten, dass es in der neuen Verfassung zu einem Rückschritt bei den Frauenrechten kommen würde, obwohl die Regierungskoalition unter der Führung der islamistischen Ennahdha-Partei mehrfach angekündigt hatte, das moderne Frauenrecht nicht anzutasten.
Die Artikel 20 und 45 bringen sogar einen Fortschritt. Sie stellen Männer und Frauen nicht nur vollkommen gleich und garantieren Chancengleichheit, sondern sprechen sich auch dafür aus, dass eine bestimmte Zahl der Sitze in Stadt- und Landräten an Frauen vergeben werden muss, was eine Form der positiven Diskriminierung bei der Besetzung der Wahllisten zur Folge haben wird. Als die Artikel angenommen wurden, brachen viele Abgeordnete in Jubel aus und stimmten spontan die Nationalhymne an.
Doch Frauenrechtlerinnen fürchten, dass andere Artikel der Verfassung missbraucht werden, um die gerade erst gewonnenen Rechte wieder einzuschränken. So könne zum Beispiel das gesetzlich verankerte "heilige Recht auf Leben" genutzt werden, um die Fristenregelung für Abtreibungen abzuschaffen, warnen Frauenverbände.
Verhaltene Stimmung bei den Abgeordneten
Der Umbruch in Tunesien vor drei Jahren findet im neuen Verfassungstext deutlichen Widerhall. Die verarmten Regionen sollen zukünftig eine stärkere Rolle spielen, eine Machtverteilung zwischen Präsident und Premierminister dafür sorgen, dass kein Alleinherrscher mehr ein autokratisches Regime einführen wird. Und der neu zu schaffende Verfassungsgerichtshof soll über die Rechtmäßigkeit zukünftiger Gesetzesreformen wachen. Doch die Begeisterung bei Regierung und Opposition über den endgültigen Text, der so gespalten und widersprüchlich wie die tunesische Gesellschaft selbst ist, bleibt verhalten. Beide Seiten mussten teils schmerzhafte Zugeständnisse machen.
Karima Souid, Abgeordnete der linken Liste "Al-Massar", beklagt sich, dass die Jugendlichen, die den Umbruch in Tunesien vor drei Jahren massiv vorangetrieben haben, eine zu kleine Rolle im neuen Text spielen. "Dass wir heute noch für die Rechte von Frauen und Jugendlichen kämpfen müssen, ist doch nicht normal, das sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Das zeigt, dass wir einfach nicht das gleiche Gesellschaftsprojekt haben." Sie hoffe jetzt, dass das zukünftige Parlament den aktuellen Text verbessern werde.
Das soll, genauso wie ein neuer Präsident, noch im Verlauf dieses Jahres gewählt werden. Inzwischen hat eine neue Übergangsregierung unter Leitung des ehemaligen Industrieministers Mehdi Jomaa ihr Amt angetreten, der neuen Regierung aus unabhängigen Experten gehören 21 Minister und sieben Staatssekretäre an. Premierminister Ali Larayedh (Ennahdha) hatte Anfang Januar nach monatelangem politischen Tauziehen seinen Rücktritt erklärt, um die seit rund einem Jahr schwelende politische Krise, ausgelöst durch den Mord an zwei Oppositionspolitikern, zu beenden.
Sarah Mersch
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Redaktion: Helena Baers/dw.de