Fluch oder Segen für den Nahen Osten?
Zwei Jahre ist es her, da ging dem Irak noch fast das Geld aus. Dabei könnte das Land eigentlich reich sein. Schließlich ist der Irak der fünftgrößte Ölproduzent der Welt. Doch Öl ist die Haupteinnahmequelle und damit ist der Irak - wie andere Staaten im Nahen Osten auch - den Preisschwankungen auf dem Weltmarkt für Öl ausgeliefert. Und da herrschte noch bis vor Kurzem Flaute.
Bereits 2015 sagte der Internationale Währungsfonds voraus, dass dem Irak innerhalb von fünf Jahren das Geld ausgehen könnte, wenn er sich nicht vom Ölgeschäft unabhängiger macht und seine Wirtschaft breiter aufstellt. Im Jahr 2020 wurde diese Vorhersage fast zur Realität, als die Ölpreise aufgrund der Corona-Pandemie um mehr als ein Drittel fielen und sich das irakische Nationaleinkommen fast halbierte.
Die Auswirkungen waren immens, finanziert der Irak doch fast seinen gesamten Staatsapparat aus den Öleinnahmen. Sein öffentlicher Sektor gehört zu den größten der Welt. Sieben Millionen Staatsbedienstete und Pensionäre bekommen staatliche Auszahlungen. In den letzten Monaten des Jahres 2020 war die Regierung in Bagdad nicht in der Lage, diese Gelder pünktlich zu zahlen - landesweite Proteste waren die Folge.
Im Oktober 2020 veröffentlichte das irakische Finanzministerium ein "Weißbuch für Wirtschaftsreformen". Darin wird eine Wirtschaftsreform dringend gefordert. Denn Öl ist keine sichere Bank mehr und wird über kurz oder lang als permanent sprudelnde Geldquelle versiegen, weil immer mehr Abnehmer auf umweltfreundlichere Energien umsteigen wollen.
Pläne für Reformen
Doch noch sieht es anders aus. Die russische Invasion in der Ukraine hat den Ölpreis weltweit auf neue Höchststände steigen lassen. Nach Angaben der Weltbank hat er sich zwischen Dezember und März, also bis nach Beginn des Ukraine-Kriegs, bereits um 55 Prozent erhöht.
Ein weiterer Anstieg ist möglich, nachdem die Europäische Union ein teilweises Embargo gegen Öl-Lieferungen aus Russland verhängt hat. Das bedeutet schlechte Aussichten für Verbraucher in Europa und ein absehbar gutes Geschäft für die Öl- und Gasförderländer am Persischen Golf wie Irak, Saudi-Arabien, Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate.
So spülte das Öl im März allein dem Irak mehr als elf Milliarden Dollar in die Staatskasse. Ähnlich hohe Einnahmen gab es zuletzt vor 50 Jahren. Die Regierung in Bagdad ist nun in der Lage, alle Rechnungen zu bezahlen. Die zuvor vom Finanzministerium angemahnten Reformen scheinen angesichts des unerwarteten Geldsegens nicht mehr so dringend.
Auf dem Weg in eine grünere Zukunft
Reformen sind auch in anderen energieexportierenden Ländern des Nahen Ostens geplant. Saudi-Arabien arbeitet seit 2016 an seinem ehrgeizigen und sehr teuren Projekt "Vision 2030", das finanzielle und soziale Veränderungen mit dem Umstieg auf erneuerbare Energien verbindet.
Auch die Vereinigten Arabischen Emirate und Katar versuchen, ihre Volkswirtschaften für den Tag zu rüsten, an dem ein Großteil der Welt tatsächlich auf erneuerbare Energien umgestiegen ist. Die Emirate wollen ihre Einnahmebasis verbreitern – und versuchen, das Wirtschaftszentrum der Region zu werden.
Die unerwarteten Mehreinnahmen würden zwar den Reformdruck mindern, sagt Robert Mogielnicki vom Institut für die arabischen Golfstaaten in Washington (AGSIW): "Aber höhere Energiepreise sind kein politischer Wendepunkt."
Der Nahostexperte geht eher davon aus, dass die Einnahmen sogar Reformen erleichtern könnten, die unausweichlich seien. "Es besteht kein Zweifel, dass wir uns auf eine grünere Zukunft zubewegen", so Mogielnicki. "Es ist nur unklar, wann das passieren wird. Deshalb versuchen Öl- und Gasförderländer im Nahen Osten in neue Energiemärkte vorzustoßen, zum Beispiel investieren sie in die Herstellung von Wasserstoff."
Die Golfstaaten auf Einkaufstour
Die Wirtschafts- und Energieexpertin Karen Young vom Middle East Institute in Washington sieht das ähnlich. Vor allem die Golfstaaten würden die Gunst der Stunde nutzen, so ihre Analyse, und zwar nicht nur dank der höheren Ölpreise, sondern auch wegen der Turbulenzen auf anderen Märkten.
Die Aussicht auf steigende Inflation und Nahrungsmittelknappheit in Verbindung mit höheren Ölpreisen werde die Unterschiede zwischen den Ländern der Region noch verschärfen, sagt Young. Die ölproduzierenden Länder würden Krisen besser überstehen, weil sie über hohe Geldreserven verfügen. Damit seien sie im Vorteil gegenüber ihren Nachbarn. Es sei Teil der Außenpolitik der Golfstaaten, in bestimmten Zeiten Regierungen anderer Länder mit Finanzspritzen und Investitionen zu unterstützen. Und jetzt hätten sie dafür noch mehr Geld.
Ägypten zum Beispiel ist von den Auswirkungen des Ukraine-Krieges besonders hart getroffen und war Ende März gezwungen, seine Währung abzuwerten. Ende des Monats sprang Saudi-Arabien dem Nachbarn zur Seite und zahlte fünf Milliarden US-Dollar bei der ägyptischen Zentralbank ein, um die Wirtschaft des Landes zu stützen. Auch der saudische Public Investment Fund will weiter in Ägypten investieren.
Gasförderland Katar, dessen Energieexporte zum ersten Mal seit 2014 wieder einen Wert von 100 Milliarden US-Dollar erreichen werden, hat Ägypten ebenfalls Investitionen in Höhe von rund fünf Milliarden Dollar zugesagt. Die Golfstaaten hätten Blut geleckt, sagt Karen Young. "Sie sind im Grunde auf Einkaufstour."
Aus Expertensicht wird das viele Geld die Golfstaaten aber nicht zu außenpolitischen Abenteuern verleiten. Es seien eher Investitionen in die eigene Verteidigung und technische Infrastruktur zu beobachten, sagt die Washingtoner Expertin Young.
Im Irak sehe die Sache allerdings anders aus, schränkt Renad Mansour ein. Er ist Projektleiter der Irak-Initiative bei der britischen Denkfabrik Chatham House. Der schwankende Ölpreis sei gar nicht das eigentliche Problem, sondern die verschiedenen Dauermängel in der Regierungsführung, konkurrierende politische Interessen und die Korruption im Irak. Kurzfristig könnte eine gut gefüllte Staatskasse politische Konkurrenten einander sogar näher bringen, da sie nicht miteinander um knappe staatliche Mittel ringen müssten, sagt Mansour.
Aber höhere Öl-Einnahmen dürften die Reformen im Irak weder beschleunigen noch verlangsamen. Auch als das Öl-Geschäft lahmte, habe es im Irak wenig Bereitschaft gegeben, einen Wandel einzuleiten, so die Analyse des Chatham-House-Experten.
© Deutsche Welle 2022
Adaptiert aus dem Englischen von Arnd Riekmann