Von Israel lernen, heißt Putin besiegen lernen
Bei seiner Vereidigung am 20. Mai 2019 nannte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj im Hinblick auf die Verteidigung seines Landes Israel als Vorbild. Diesem Statement, das in Tel Aviv und Jerusalem für Schlagzeilen sorgte, verlieh er wenige Monate später Nachdruck, als er in Kiew den damaligen israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu empfing: "Als Staat können wir viel von Israel lernen, insbesondere in Fragen der Sicherheit und Verteidigung. Und das werden wir definitiv tun.“
Selenskyj, der 1978 als Sohn jüdischer Eltern in der südukrainischen Industriestadt Kriwoi Rog geboren wurde, pflegt in seinen Ansprachen auch die historische Verbundenheit von Juden und Ukrainern zu beschwören – zuletzt im Dezember auf dem internationalen "Kiewer Jüdischen Forum“, das sich seit seiner Gründung 2019 für die Vertiefung der Beziehungen zwischen beiden Völkern einsetzt.
In Anwesenheit des israelischen Staatspräsidenten Yitzhak Herzog sowie mehrerer israelischer und ukrainischer Minister zog Selenskyj vor dem Hintergrund der russischen Truppenkonzentration an der ukrainischen Grenze Parallelen zwischen Ukrainern und Juden: "Wir wissen, wie es ist, keinen eigenen Staat zu haben. Wir wissen, was es bedeutet, den eigenen Staat und das eigene Land mit der Waffe in der Hand zu verteidigen, selbst um den Preis des eigenen Lebens. Ukrainer wie Juden schätzen die Freiheit, und sie arbeiten gleichermaßen daran, dass die Zukunft unserer Staaten nach unseren Vorstellungen gestaltet wird und nicht nach denen, die andere für uns wollen. Israel ist für die Ukraine oft ein Vorbild.“
Mit derartigen Äußerungen folgt Selenskyj einem Trend, der sich in der Ukraine schon lange vor seinem Amtsantritt verfestigt hat. Von ganz unterschiedlichen Kreisen wird dort Israel nämlich als das Vorbild schlechthin betrachtet. Was diese Vorstellung eint, scheint das Bestreben zu sein, die Ukrainer zu einer selbstbewussten Nation zusammen zu schmieden – so schnell und so erfolgreich, wie dies den Juden mit dem von ihnen gegründeten Staat Israel gelungen ist. Beispiele für diese Israel-Begeisterung der Ukrainer begegnen auf Schritt und Tritt.
Nachhilfe beim Versuch, aus einem Land eine Marke zu machen
Insbesondere vom Westen unterstützte, um die Zementierung der Demokratie im Land bemühte ukrainische Nichtregierungsorganisationen und Denkfabriken haben wiederholt ausbuchstabiert, was die Ukraine vom Zionismus und von Israel lernen solle. Dabei dient die Bedrohungslage durch Russland häufig als Folie, um Analogien zu Israel zu ziehen – wenn nicht gar zu konstruieren.
2016 veröffentlichte das von der EU-Kommission mitfinanzierte Kiewer "Zentrum für sozialökonomische Forschung“ (CASE Ukraine) einen Bericht mit dem Titel "Einige Lehren aus Israel für die Ukraine“. In diesem Papier heißt es einleitend, man solle sich an Israel allein schon deshalb ein Beispiel nehmen, weil das Land wie der Donbass in einen langjährigen militärischen Konflikt verwickelt sei.
Der Bericht, der vor allem Israels Wirtschaftswachstum im Blick hatte, wollte vor Augen führen, wie es dem jüdischen Staat gelang, trotz äußerer Bedrohungen in die "erste Welt“ aufzurücken – vor einer ähnlichen Herausforderung stehe schließlich auch die Ukraine.
Von Israel inspirieren lassen sich die ukrainische Staatselite und die ihr nahestehenden zivilgesellschaftlichen Organisationen ganz besonders auch in ihrem Bestreben, den Patriotismus der Ukrainer zu festigen. Das Erreichen dieses Ziels, das gegenwärtig auch der staatliche Aktionsplan für die national-patriotische Erziehung 2020 bis 2025 verfolgt, wird als unerlässlicher Schritt auf dem Weg zur Konsolidierung des ukrainischen Nationalstaats gesehen.
Bewundernd blickt man deshalb darauf, wie es den Juden gelungen ist, eine moderne Nation und einen modernen Staat aufzubauen. 2018 veranstaltete die Kiewer Denkfabrik "New Europe Center“, die sich mit der ukrainischen Außen- und Sicherheitspolitik befasst und auch vom deutschen Auswärtigen Amt unterstützt wird, die Konferenz "Die Erfahrung der israelischen Staatsbildung: Lehren für die Ukraine“.
Partner war die seit 2008 um die Annäherung von Ukrainern und Juden bemühte Organisation "Ukrainian Jewish Encounter“, deren Beratergremium und wissenschaftlichem Beirat angesehene Historiker wie Timothy Garton Ash, Timothy Snyder und Omer Bartov angehören. Snyder ist der wohl prominenteste gelehrte Fürsprecher des ukrainischen Nationalismus in der westlichen Welt; Bartov, der in einem Kibbuz geboren wurde und an der Universität Tel Aviv studierte, schrieb über Buczacz, die ukrainische Heimatstadt seiner Mutter, ein ins Deutsche übersetztes Buch und nahm kritisch zu geschichtsrevisionistischen Tendenzen in der unabhängigen Ukraine Stellung.
Ein wechselseitiger Ausschluss
Auf der Tagung in Kiew widmete man sich etwa der Frage "Nationale Sicherheit und Menschenrechte: Wie kann ein Gleichgewicht bei Wahrung der öffentlichen Interessen gefunden werden?“ Ein weiteres Thema war die "Bekämpfung von Desinformation und Schaffung einer Länder-Marke: Israels Erfahrungen für die Ukraine“, wozu Robert Singer vom Jüdischen Weltkongress und der frühere UN-Botschafter Israels und designierte Botschafter in Deutschland Ron Prosor sprachen.
Ebenfalls 2018 hob Nataliya Popovych, Mitbegründerin des "Ukraine Crisis Media Center“ – auch dieses wird von der Nato, der deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit und dem Auswärtigen Amt unterstützt – Israels Vorbildqualitäten für die Ukraine in einem Sieben-Punkte-Katalog hervor; sie tat dies im ukrainischsprachigen Dienst des von der amerikanischen Regierung seit dem Kalten Krieg finanzierten Senders Radio Liberty.
In der Geschichte des Zionismus gibt es für die Politikwissenschaftlerin und Journalistin "viele Parallelen zum ukrainischen Patriotismus“. Sie rühmt die "langjährige Arbeit“ der Zionisten zur "Stärkung des nationalen Charakters“ sowie den engen Zusammenhalt von Staat und Volk, dessen Angehörige jederzeit bereit seien, sich für ihr Land zu opfern.
Die Ukraine müsse lernen, ihren Standpunkt so konsistent und systematisch zu kommunizieren, wie Israel es tue; der Ukrainische Weltkongress solle sich den medial geschickt agierenden Jüdischen Weltkongress zum Vorbild nehmen. In ihrer letzten Empfehlung greift Nataliya Popovych eine Aussage der aus Kiew gebürtigen israelischen Ministerpräsidentin Golda Meir auf: "Zionismus und Pessimismus schließen sich gegenseitig aus.“ Auch der ukrainische Patriotismus solle mit Optimismus die Herausforderungen des Staatsaufbaus meistern.
Die Schule der wehrhaften Nation
Wie Popovychs Begeisterung für Israel entstand, kann man der Einleitung zu ihrem Beitrag entnehmen. Dort erzählt sie, dass sie 2014 als Beraterin für Boris Lozhkin tätig war, den damaligen Leiter der Präsidialverwaltung in Kiew und heutigen Präsidenten der Jüdischen Konföderation der Ukraine sowie Vizepräsidenten des Jüdischen Weltkongresses. Sie und ihr Chef trafen den israelischen Staatsbeamten Erez Eshel, der damals die Abteilung für Gesellschaft und Jugend im Bildungsministerium leitete. Eshel ist der geistige Vater der israelischen Militärvorbereitungsschulen, in denen besonderer Wert auf Patriotismus gelegt wird.
Popovych besuchte solche Einrichtungen in Israel und zeigt sich davon beeindruckt, wie nationale Identität und gesellschaftliche Verantwortung dort gefördert und der selbstlose Dienst für das Heimatland hochgehalten würden. 2015 gehörte sie dann zu den Gründern der "Ukrainischen Führungsakademie“, die sich am israelischen Vorbild orientiert und junge Menschen auf Führungsrollen in der Gesellschaft vorbereitet.
Bewunderung für Israel hegen in der Ukraine nicht nur demokratisch und westlich ausgerichtete Kreise, sondern auch Ultranationalisten und Rechtsextremisten – auch aus dem Umfeld der Anhänger des bewaffneten antisowjetischen Widerstands, dessen Mitglieder zeitweise mit dem NS-Regime kollaborierten. Dazu zählt die rechtsextreme paramilitärische "Allukrainische Organisation Dreizack – Stepan Bandera“, die sich nach dem Nationalwappen und dem umstrittenen "Nationalhelden“ Bandera benannt hat.
Auf ihrem Internetportal "Banderivets“ (Banderisten) ist auch heute noch ein 2018 veröffentlichter Lobgesang auf das israelische Nationalstaatsgesetz zu lesen, das in Israel selbst wie auch im Ausland bis heute für Kritik sorgt. Der Autor des Textes, Viktor Serduletz, Publizist und Verfasser eines patriotisch-militaristischen Abenteuerromans, war in den Jahren 2017 bis 2020 Kopf der Organisation. Er lobte Israels Beharren auf dem vermeintlichen Recht, das Land in Besitz zu nehmen und für zukünftige Generationen der jüdischen Nation zu sichern. Serduletz rühmte, dass die Israelis bereit seien, "dieses Recht mit Waffen zu verteidigen“, weshalb Israel die allgemeine Wehrpflicht eingeführt habe.
In solchen ultranationalistischen ukrainischen Kreisen trifft man auch auf Sympathien für den Anführer der revisionistischen Zionisten Vladimir (Zeev) Jabotinsky. Er stammte aus der Ukraine und war in jungen Jahren ein glühender ukrainischer Patriot und entschiedener Gegner einer Russifizierung des Landes. Aus Jabotinskys revisionistischer Bewegung ging später bekanntlich in Israel die Likud-Partei hervor, deren langjähriger Vorsitzender Netanjahu sich als Ministerpräsident energisch für die Festigung der israelisch-ukrainischen Beziehungen einsetzte.
Diese waren allerdings schon vor Kriegsausbruch durch die Haltung Jerusalems zum ukrainisch-russischen Konflikt getrübt. Kiew klagte darüber, dass Israel – dessen Luftangriffe vor allem gegen iranische Ziele in Syrien von Moskau geduldet werden – zu viel Rücksicht auf Russland nehme.
Präsident Selenskyj hoffte in den ersten Tagen des Krieges noch, die israelische Regierung als Vermittlerin zu gewinnen, was die russische Seite jedoch ablehnte. Nach einigem Zögern und steigendem öffentlichem Druck im Land bezeichnete der israelische Außenminister Jair Lapid den russischen Angriff auf die Ukraine als "schlimmen Verstoß gegen die Weltordnung“; er betonte aber gleichzeitig, dass Israel zu beiden Ländern beste Beziehungen pflege.
Aus Israel hört die Ukraine den Vorwurf doppelter Standards
In der Sache verfolgt Israel, das der Ukraine nun humanitäre Hilfe leistet, weiterhin einen Zickzackkurs. Im UN-Sicherheitsrat schloss es sich trotz amerikanischer Aufforderung nicht der Resolution gegen den russischen Einmarsch an, es stimmte jedoch am 2. März für die Verurteilung Russlands in der UN-Vollversammlung. Der israelische Ministerpräsident Naftali Bennett mied allerdings klare Worte, als er auf der gemeinsamen Pressekonferenz mit seinem Besucher Olaf Scholz zwar von einem "Blutvergießen“ sprach, Russland jedoch mit keinem Wort erwähnte. So hielt er es auch gestern in seiner Stellungnahme zum Krieg auf der "CyberTech“-Konferenz in Tel Aviv.
Diese Zurückhaltung stößt nicht nur in Israel - trotz des Vermittlungsversuchs von Bennett in Moskau und Berlin – vor allem in linksliberalen Kreisen auf Kritik. In sozialen Medien der Ukraine wird Jerusalem vorgeworfen, mit Russland gemeinsame Sache zu machen und gegenüber der Ukraine in moralischer Hinsicht doppelte Standards anzuwenden. Laut wird jetzt dort der ansonsten eher leise geäußerte Vorwurf, Israel sei zwar schnell dabei, ukrainische Nationalhelden – wie etwa Stepan Bandera – als Antisemiten anzuprangern, erkenne aber den Holodomor, die Aushungerung ukrainischer Bauern durch Stalin, nicht als Völkermord an.
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