Tiefe Gräben
Wenige Tage nach den Anschlägen auf die Redaktion des Satiremagazins "Charlie Hebdo" in Paris kam ich eines Abends spät nach Hause und fand an der Wand unseres Wohnzimmers einen handgeschriebenen Zettel. Darauf stand: "Ich bin Mohammed. Je ne suis pas Charlie."
Geschrieben hatte dies mein Mann. Sein Name ist Mohammed, er stammt aus Algerien und ist ein gläubiger Muslim – mitnichten aber ein Fundamentalist oder gar ein Islamist. Das Attentat verurteilte er ohne Einschränkung – den Abdruck der Karikaturen ebenso. In diesem Raum dazwischen entstand das Gefühl, dass der Slogan "Ich bin Charlie" – der um die Welt reiste und fast inflationären Charakter annahm – für ihn nicht ausnahmslos gelten könne. Etwas an dieser Aussage – die eine Allgemeingültigkeit reklamierte, die nur selten hinterfragt wurde – kam ihm falsch vor und schloss ihn im gleichen Atemzug aus.
Dokument einer Spaltung
Der persönliche Vorlauf sei erlaubt, denn er illustriert ein Grundgefühl, das eben nicht rein privater Natur ist: dazu zu gehören und doch nicht dazu zu gehören. Dieses Gefühl treibt auch die Mehrzahl jener Menschen um, die Victoria Schneider in ihrer schlanken, aber brillanten Reportage "Seid Ihr Charlie?" zu Wort kommen lässt.
Drei Tage nach dem Anschlag auf die Redaktion von "Charlie Hebdo" trifft sie in Paris ein; drei Wochen später reist sie wieder ab. Ihr Text – am 25. Februar als e-Book in der sogenannten Hanser-Box erschienen – ist das Dokument einer Reise durch ein zerrissenes und gespaltenes Land. Am Tag ihrer Ankunft drängeln sich Zehntausende Franzosen in die Pariser Innenstadt zum "Großen Marsch der Republik".
Einigkeit! Einigkeit?
Doch die an diesem Tag viel beschworene "Einigkeit" gilt nicht für jene, mit denen sie spricht. Sie heißen Habib oder Walid, Siham oder Yassin. Sie leben in Frankreich, seit Jahrzehnten, oder sind dort gar geboren; sie sprechen perfekt Französisch, manche von ihnen besitzen die französische Staatsbürgerschaft. Und doch fühlen sie sich seit den Anschlägen noch weniger als Franzosen.
Denn dieses Frankreich stellt sie – wieder einmal – unter Generalverdacht: "Das warst aber nicht du?", wird der 41-jährige Habib, ein Buchhändler, am Tag nach dem Attentat mit einem nett gemeinten Augenzwinkern von seinen Nachbarn gefragt.
Geografisch, sozial, kulturell gettoisiert
Victoria Schneider – die 1987 geboren ist und seit einigen Jahren als freie Journalistin in Johannesburg lebt – nimmt also den Slogan "Ich bin Charlie" auf, dreht ihn um und macht daraus eine Frage: Frankreich diskutiert erneut die Rolle des Islam und die Gefahren eines radikalen Islam auf eigenem Boden.
Die dort lebenden Muslime aber – so Schneider – haben es satt, sich beständig für ihre Religion und in deren Namen begangene Attentate rechtfertigen zu müssen. Immerhin – so erinnert uns die Autorin – leben fünf bis sechs Millionen Muslime in Frankreich, das sind rund zehn Prozent der Bevölkerung. Zugleich bilden sie die größte muslimische Bevölkerung in Europa. Doch gerade in Frankreich sind sie noch immer nicht integriert, sondern – so Victoria Schneider – sozial, geografisch und kulturell gettoisiert.
Rasse gleich Klasse?
Rasse bedeutet in dieser Hinsicht auch Klasse. Studieren kann man das in den sogenannten Banlieues – der in Beton gemeißelten Verkörperung dieser Gettoisierung. Victoria Schneider begibt sich in einige der berüchtigsten dieser Banlieues. Sie schaut hin und schreibt auf: Razzien in arabischen Geschäften; Polizeikräfte, wo es gilt, die wenigen dort lebenden Juden zu beschützen.
Sie enthält sich dabei jeglichen Kommentars; die Szenen sagen ohnehin mehr als alle Worte. Sie spricht mit Anwohnern, aber auch mit Lehrkräften. Viele von ihnen sind überfordert oder entmutigt und berichten vom immer Gleichen: dass die Banlieues einst kulturell gemischt waren, dann aber jene übrig blieben, die sozial am Schwächsten sind, darunter die Muslime.
Das Schulproblem
Diese soziale Entmischung aber – und das begreift man mit Hilfe dieses schlanken Werkes – schlägt doppelt zu Buche: Die Schule kann man sich – im Gegensatz etwa zu Deutschland –nicht aussuchen. Wer in den Banlieues zur Welt kommt, geht in den Banlieues zur Schule. Sozialer Aufstieg ist damit nicht vorgesehen.
Zugleich suchen viele Halt im Islam, den sie fatalerweise auf der Straße – und das heißt in einer radikalisierten Version – erlernen. Denn Religion ist in der Schule des laizistischen Frankreich verboten. Erschafft Frankreich also einen Teil der Probleme, die dringend abschaffen zu wollen es nun vorgibt?
Blinder Fleck
Neueste Umfragen, so klärt uns die Autorin auf, besagen, dass die Franzosen – nebenbei: wer oder was ist das überhaupt? – sich nun für mehr und nicht für weniger Laizismus aussprechen.
Victoria Schneider – die an keiner Stelle didaktisiert, sondern ihr Thema lebensnah und ganz an den Menschen entlang veranschaulicht – zieht insofern ein pessimistisches Fazit: Den Gegebenheiten einer multikulturellen Gesellschaft blickt Frankreich ebenso wenig ins Auge wie der Tatsache, dass das Aufkommen des Islam in Frankreich nicht zuletzt Erbe der eigenen kolonialen Geschichte ist. Man wünscht sich mehr von solchen Texten – und wünscht, dass der kleine, aber gehaltvolle e-book-Titel nun genauso zirkuliert wie der Slogan "Ich bin Charlie".
Claudia Kramatschek
© Qantara.de 2015
Victoria Schneider: "Seid Ihr Charlie? Ein Januar in Paris", Hanser-Box, ePUB-Format, 30 Seiten