Iran ganz anders
Hafis könnte sich kaum eine angenehmere Ruhestätte ausgesucht haben. Zierliche Mandarinenbäume umgeben das achtsäulige Grabmal des Dichters in der südiranischen Stadt Schiras. Eine Nachtigall zwitschert dem Abendhimmel entgegen. Im Wasser der Bassins spiegelt sich die funkelnde Mosaikdecke des Bauwerks, während seichte Lautenklänge aus Lautsprechern die warme Luft erfüllen.
Vor dem weißen Marmorsarkophag besetzen Fans des Nationalpoeten die Treppenstufen: Gruppen von Studenten, ein verträumtes Liebespaar, Familien mit Mädchen in Jeans und Großmüttern im schwarzen Tschador. Jemand hat dunkelrote Rosenblätter auf der kalligraphisch geschwungenen Grabinschrift verstreut.
Es ist eine Atmosphäre, als wäre Hafis' Poesie Wirklichkeit geworden. Die meisten Pilger tragen eine Ausgabe seines „Diwan“ in der Tasche, jener berühmten Sammlung von Hunderten Gedichten, die 1812 zum ersten Mal in der Übersetzung des österreichischen Orientalisten Joseph von Hammer-Purgstall in deutscher Sprache erschien.
Drohungen aus Washington
Seit mehr als 600 Jahren sind Hafis' Verse ein Zufluchtsort für Iraner. Ein Orakel, um schwere Fragen zu beantworten, ein chiffrierter Ratgeber, ein vertrautes Zuhause in unruhigen Zeiten. Hafis bekamen die meisten Iraner schon auf dem Schoß ihrer Großeltern vorgelesen. Er gilt als Meister der Metapher und Hüter aller Geheimnisse – kaum ein Iraner, der nicht in seiner poetischen Bilderwelt aufgewachsen ist.
Mein erster Iranbesuch vor fast zehn Jahren hinterließ einen bleibenden Eindruck. Begeistert von den herzlichen Begegnungen mit Iranern und ihrer Kultur entwickelte ich die fast messianische Gewohnheit, Freunden in Deutschland zu erklären, dass Iran überhaupt nicht so sei, wie sie immer dachten. Was heute unter Iran-Reisenden und Youtubern schon fast plattitüdenhaft wirkt, war damals noch eine überraschende Erkenntnis.
Besonders die Stimmung im Hafis-Garten in Schiras war so ziemlich das Gegenteil von den Eindrücken faustschwingender Eiferer, Flaggenverbrenner und keifender Potentaten, die uns aus Iran im Fernsehen serviert wurden. „Wisst ihr, dass sich jeden Tag scharenweise junge Iraner in Hafis' Mausoleum Gedichte vorlesen?“, pflegte ich meine Gegenüber zu fragen. Dann folgte ein Vergleich, den ich mir eigens für die Pointe erdacht hatte. „Das ist, als strömten deutsche Jugendliche nach Weimar an Goethes Grabmal, um einander aus dem 'Faust' vorzulesen.“
Schon vor der Corona-Pandemie begann das Jahr für Iran nicht gut. Im Januar mussten die Iraner einen Tweet lesen, der nicht nur ihnen selbst übel aufstieß. Im Schlagabtausch zwischen Amerika und Iran drohte Präsident Donald Trump für den Fall, dass amerikanische Soldaten bei iranischen Angriffen zu Schaden kämen, mit der Zerstörung von 52 persischen Kulturstätten.
Die Unesco protestierte. Auch ich konnte es kaum fassen. Zwar kennt man inzwischen Trumps Tiraden, doch in der Hitze der Ereignisse schien selbst so eine Wahnsinnstat einen Moment lang möglich. Was, wenn der amerikanische Präsident seine Drohung wahrmachen würde? Wenn Hafis' friedlicher Garten in Schutt und Asche gebombt würde?
Trump traf damit einen empfindlichen Nerv bei einem verunsicherten Kulturvolk, das schon seit Jahren unter Sanktionen und einem bedrohlichen Kriegsszenario leidet. Dann kam noch die Corona-Krise dazu. Iran war das Land im Mittleren Osten, das als erstes und am stärksten von der Pandemie heimgesucht wurde. Mit gut 25.000 Corona-Toten (weit mehr als doppelt so vielen wie in Deutschland) ist es weiterhin das Epizentrum in der Region.
So begann das persische Neujahr im März unter düsteren Vorzeichen. Dabei hat Iran viel Besseres verdient. Mit der Herzlichkeit und Gastfreundschaft seiner Menschen, der Vielfalt seiner Regionen und der tiefsinnigen Mystik in den Zeilen von Poeten wie Dschalaluddin Rumi hatte Iran mein Herz berührt.
Nach meiner ersten Iranreise entschloss ich mich, Iranistik zu studieren. Ich paukte Persischvokabeln an einem angestaubten Berliner Institut. Farsi zu sprechen war der wichtigste Ertrag eines sonst eher trockenen philologischen Studiums.
Im Herbst 2013 zog ich für ein Semester nach Teheran. Dort machte mein Persisch so große Fortschritte, dass ich am Ende einen Kursus über klassische Dichtung besuchen konnte. Das öffnete mir ein Fenster zu jener ästhetischen Welt, für die sich auch Goethe einst begeistert hatte. Im „West-Östlichen Diwan“ schrieb er zu Ehren seines persischen Dichtervorfahrens: „Und mag die ganze Welt versinken! / Hafis, mit dir, mit dir allein / Will ich wetteifern!“
Gedichte auf zwei Beinen
Auch ich beschloss, mein Augenmerk stärker auf den kulturellen Reichtum der Iraner zu legen als auf die Wirren der Tagespolitik. Es war eine bewusste Entscheidung, mit der keineswegs politische Probleme und gravierende Menschenrechtsverletzungen ignoriert werden sollten. In einer multiperspektivischen Realität entschied ich mich schlicht, mit anderen, genauso gültigen Narrativen über Iran zu berichten, Gegenakzente zu setzen. Warum sollten wir nichts von dieser Welt hören, die ihre eigene Gültigkeit besaß? Entlarven wir nicht unsere vermeintliche Objektivität, wenn wir auf manche Regionen nur mit automatisierten Schemata blicken?
Während meiner Zeit in Teheran tauchte ich in die poetische Alltagskultur der Iraner ein. Bei U-Bahn-Fahrten durch die Hauptstadt kaufte ich Kindern kleine Umschläge ab, in denen Schnipsel mit Hafis-Gedichten steckten. Das „Fal-Ziehen“ ist eine iranische Methode, um drögen Fahrten im großstädtischen Personennahverkehr eine Prise Weisheit zu verleihen. Ich traf Menschen, die bei jeder mittellangen Unterhaltung zumindest einen oder zwei Gedichtverse zitierten, unter ihnen waren auch Taxifahrer oder Straßenfeger. Manche von ihnen gingen, wie das ein iranischer Freund nannte, wie „Gedichte auf zwei Beinen“ durchs Leben. Sie brachten positive Energie in ihr Umfeld, Energie, die sie direkt aus dem Inspirationsschatz der persischen Versmystik schöpften.
Auch ich lernte einige Gedichte auf Farsi auswendig. Damit wurde ich ein Stück weit Teil der iranischen Gesellschaft. Denn Dichtung, stellte ich fest, war für die Iraner so etwas wie ein Mitgliedsausweis. Wer Hafis oder Rumi aus dem Gedächtnis rezitieren kann, der knüpft an jene generationenübergreifende Kultur an, die über Jahrhunderte weitergereicht wurde.
Natürlich ließ sich die Politik nie ausblenden, das wäre realitätsfern. Ich litt mit, als in den vergangenen Jahren die Wirtschaftssanktionen gegen Iran auch das Leben meiner Freunde immer stärker einschränkten. Manchmal versuchte ich dann, die Dinge durch die Linse einer simplen persischen Sufi-Weisheit zu betrachten: „In niz bogzarad – Auch dies wird vorübergehen.“
Doch es wurde immer schwieriger. Es gab kaum eine Taxifahrt bei meinen jüngsten Besuchen in Iran, bei der das Gespräch mit dem Fahrer nicht in endlosen Klagen endete (iranische Taxifahrer lieben politische Diskussionen). Klagen über die Zustände im Land, die gigantische Inflation, die religiös getünchte Doppelzüngigkeit in der Politik, aber auch die vermeintliche Zurückgebliebenheit Irans gegenüber den so fortschrittlichen Europäern.
„Was machst du überhaupt hier?“, wurde ich dann gefragt. „Was bringt es dir, Persisch zu lernen? Das Geld liegt doch ganz woanders.“ In solchen Situationen fiel es mir schwer zu kontern. Beizeiten versuchte ich zu erklären, dass Gastfreundschaft und ein lebendiges Bewusstsein für kulturelle Wurzeln Reichtümer waren, an denen es „uns Westlern“ mangelte. Ich hatte nur mäßigen Erfolg – viele Iraner hatten das polarisierte Negativbild von Iran längst felsenfest für sich selbst übernommen.Amerika als Maß aller Dinge
Dieser postkoloniale Minderwertigkeitskomplex wurde auch geschürt durch großzügig subventionierte persische Nachrichtensender aus England und den Vereinigten Staaten, die trotz offizieller Verbote in jedem iranischen Wohnzimmer laufen. Beeinflusst durch subtile Werbung für den amerikanischen Lebensstil – etwa in Hollywood-Filmen – und befördert durch die Folgen der Globalisierung, leben viele Iraner heute ein konsumorientiertes Leben.
Die Werte haben sich verschoben. Die junge städtische Generation blickt nach Amerika als dem Maß aller Dinge. Traditionelle Familienbande brechen auseinander. Manche sehen darin einen „soft war“, einen gewollten Kulturverfall von innen, der von außen vorangetrieben wird.
All das treibt mitunter erfreuliche, wenn auch komische Blüten. „Rumis persische Sufidichtung ist auch deshalb in Iran gerade so populär, weil Rumi in Amerika lange Zeit auf Bestsellerlisten stand“, sagte der iranische Literaturprofessor Iraj Shahbazi von der Universität Teheran einmal zu mir.
Irans namhafteste Hochschule befindet sich im wuseligen Stadtkern der Millionen-Metropole. Und tatsächlich: Beim Laufen durch die Revolutionsstraße, an der Uni vorbei und entlang einer populären Büchermeile, fallen mir immer wieder dicke Gedichtbände mit Rumis Werk in den Schaufenstern auf. Nirgendwo habe ich je so viele gut sortierte Buchläden auf einem Fleck gesehen. Als ich einen der Händler anspreche, erzählt er mir, dass sich selbst sechsbändige Literaturkommentare zu Rumis Gedichtwerk mittlerweile hervorragend verkaufen.
Teheran ist keine Stadt, die gleich ans Herz wächst. In ihr schlägt das pulsierende, zuweilen rastlose Herz der Nation. Doch hier gedeiht auch die dynamischste Kulturszene des Mittleren Ostens. „See You in Iran“ ist eine Initiative, die seit einigen Jahren Nicht-Iranern das Leben dieser Szene näher bringen und damit das Ansehen des Landes verbessern will.
Alles begann 2015 mit einer Facebook-Plattform, ins Leben gerufen von jungen Iranern, die im Westen studiert und die Außenwahrnehmung Irans miterlebt hatten. Sie waren Leuten begegnet, die sich regelrecht davor fürchteten, nach Iran zu reisen. Nun konnten Iran-Reisende in der virtuellen Gruppe ihre Reiseerfahrungen mit einer stetig wachsenden Mitgliederzahl teilen.
„Es geht nicht darum, nur Positives zu verbreiten“, sagt die 28 Jahre alte Künstlerin und Kuratorin Yasaman Tamizkar, die bei „See You in Iran“ Touren durch Teheraner Kunstgalerien anbietet. „Gute wie auch schlechte Nachrichten werden ungefiltert gepostet, sodass ein realistischeres Bild entsteht.“ Ein Bild, das jenseits medialer Verzerrungen und politischer Diskurse liege.
Gefangen in der Negativspirale
Dabei helfen zwischenmenschliche Begegnungen und Erlebnisse der Aufgeschlossenheit vieler Iraner gegenüber Touristen. „Viele kehren bereichert als kulturelle Botschafter in ihre Heimatländer zurück.“ In den vergangenen Jahren betrieb „See You in Iran“ eine Handvoll Hostels und ein Kulturzentrum, veranstaltete urbane Rundgänge und Workshops zu Themen wie „Frauen des Mittleren Ostens“ oder „Nomadentum als Emanzipierung“. Doch in der Corona-Pandemie konnten sich die Herbergen nicht mehr halten, die Kulturprogramme wurden ins Internet verlagert.
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In diesem Jahr wuchs die Diskrepanz zwischen "meinem" Iran und jenem, das im Zentrum der Öffentlichkeit steht, abermals stark an. Bei den Benzinprotesten im November 2019 entlud sich der Unmut vieler Iraner mit voller Wucht, besonders in den kurdischen Randprovinzen des Landes.
Auf Bürgerwut und Vandalismus antworteten die Machthaber mit Härte, viele Menschen kamen ums Leben. Dann folgte der Mord an General Soleimani durch eine amerikanische Drohne und der versehentliche Abschuss eines ukrainischen Passagierjets kurz nach dem Start durch einen General der iranischen Luftwaffe. Alle Zeichen standen auf Eskalation. Wieder einmal schien Iran gefangen zu sein in einer Negativspirale. Und wieder einmal fragte ich mich: Wie weit und wie lange lässt sich mit kultureller Schönheit und der menschlichen Komponente ein anderes Iran-Bild zeichnen?
Die Frage ist für mich verbunden mit einer ständigen Suche, bei der ich letztlich auf tieferreichende Fragen stoße. Zum Beispiel: Was ist Objektivität? Worauf will und sollte ich meine Aufmerksamkeit richten? Wie kann ich realistisch bleiben, ohne zum hinlänglich verminten Nachrichtenterrain beizutragen? Ein paar Antworten für mich lauten: Weiterhin nach Iran reisen, auch dahin, wo sonst niemand hinfährt.
Den Kontakt mit meinen iranischen Freunden am Leben erhalten. Meine Begeisterung für die persische Lebensweise in mein Schreiben einfließen lassen, auch auf die Gefahr hin, als romantisierender Orientalist abgetan zu werden.
Vielsagend ist jedenfalls die Tatsache, dass sich schon Hafis vor Jahrhunderten an manchen Dingen in Religion und Politik rieb, die heute noch aktuell sind. Eine beißende Kritik lautet übersetzt etwa so: „Sie halten Heuchelei für erlaubt und das Weinglas für verboten (...) / Trink Wein, denn einhundert Sünden (...) / Sind besser als geheuchelter Gehorsam.“
Hafis lässt sich lesen, um die Welt ein wenig besser zu verstehen. Und um das Leben zu genießen, trotz der Ungenießbarkeit der Tagespolitik. Ob Hafis allerdings den echten Wein oder metaphorisch die spirituelle Trunkenheit meinte – in diese alte Diskussion will ich lieber nicht einsteigen.
© Qantara.de 2020