Vorbildcharakter für arabische Islamisten?

Das Experiment der islamischen AK-Partei Erdogans wird noch immer skeptisch beurteilt. Aber die Partei könnte zu einem Reformmodell des politischen Islams in der arabischen Welt avancieren.

Von Slaheddine Jourchi

Die Gründer der türkisch-islamistischen Bewegung haben nicht erwartet, dass der politische Pragmatismus des Ingenieurs Necmettin Erbakan einige seiner Schüler dazu bewegen würde, ein besonderes und einzigartiges Experiment zu wagen – ein Experiment, das für viele Diskussionen sorgte und eine nie da gewesene Verwirrung unter den Regierungen der islamischen Staaten sowie unter den islamistischen und säkularen Intellektuellen auslöste.

Handelt es sich dabei um ein neuartiges Experiment von Islamisten, eine Regierung zu stellen? Oder stellt dieses lediglich eine reine Taktik dar, die aus der Notwendigkeit der besonderen Situation in der Türkei resultierte?

Ist es eine Folge der Auseinandersetzung mit den gescheiterten und schmerzhaften Experimenten früherer Generationen türkischer Islamisten? Oder handelt es sich vielleicht um eine Neuinterpretation, die mit der bisherigen Kultur des politischen Islam (insbesondere mit der arabischen Variante) bricht?

Einflusschancen des türkischen Experiments

Die wichtigste Frage aber lautet: Wird dieses Experiment auf die Türkei beschränkt bleiben, da es aufgrund seiner Besonderheiten nicht ohne weiteres auf andere politische Kulturen übertragbar ist? Oder wird dieses Experiment – trotz seiner Besonderheit – in irgendeiner Weise das politische Denken einiger islamistischer, reformorientierter Bewegungen beeinflussen?

Als die Partei "Gerechtigkeit und Entwicklung" (AKP) bei den letzten Parlamentswahlen im November 2002 mit 34,4 Prozent der Stimmen und 365 Parlamentssitzen, einen überwältigenden Sieg errang, reagierten die Islamisten überall euphorisch.

Sie sahen darin einen eindeutigen Hinweis auf die Rückkehr der Türkei in den Kreis der islamischen Länder und einen klaren Beweis für das Scheitern des "türkischen Säkularismus" sowie aller Verfechter des Säkularismus in der Region überhaupt.

Der Sieg der AKP hat das Selbstbewusstsein der Islamisten in der arabischen Welt gefördert und sie in der Überzeugung bestärkt, dass sich die islamischen Völker für die Islamisten entscheiden würden, wenn man ihnen die freie Wahl ließe. Diese Überzeugung geht davon aus, dass dies die "natürliche Folge" sei, weil die Islamisten am engsten mit der Religion der Gemeinschaft der Gläubigen (umma) verbunden seien.

Die positive Reaktion der Islamisten auf den Wahlsieg der AKP hielt jedoch nicht lange an. Der große Schock kam mit den nachfolgenden Ankündigungen der AKP-Führung. Sie bestritt nämlich den islamistischen Anspruch des Experiments und sprach sich damit gegen ein Verständnis der AKP als Teil islamistischer Bewegungen aus. Damit waren auch die Refah-Partei, die Fadila-Partei sowie alle anderen islamistisch-türkischen Parteien gemeint.

Die AKP als Vertreterin eines "Islams der Mitte"

Die AKP basiert – nach den Worten ihres Vorsitzenden Erdogan – "auf humanen und nicht auf religiösen Prinzipien. Ihr Ziel ist das Wohl der türkischen Nation und die Förderung der demokratischen und politischen Maßstäbe". Auch sollte sich das Land auf die Grundsätze "des Säkularismus und der demokratischen sowie sozialen Werte" gründen.

Das bedeutet zwar nicht, dass sich die AKP gänzlich vom Islam losgesagt hat, wenngleich das Wahlprogramm keinerlei Bezug zum Islam nimmt. Allerdings sagt Erdogan auch, dass die AKP einen "Islam der Mitte" repräsentiere.

Das Parteiprogramm schreibt sich nicht nur den Säkularismus auf die Fahnen, sondern lobt sogar den Staatsgründer Atatürk und zitiert dessen Leitsatz: "Die Stärke der Rettung der Nation liegt in ihrer Entschlossenheit und Beharrlichkeit".

Diese Äußerungen riefen verschiedene Reaktionen hervor. Die meisten Laizisten sahen darin einen Sieg für ihr eigenes Gesellschafts- und Regierungsmodell. Obwohl viele an den wirklichen Absichten der AKP zweifelten, sahen sie doch im Festhalten der Partei am Säkularismus ein wichtiges Indiz dafür, dass diese Islamisten ihre früheren politischen Projekte aufgegeben haben.

Radikale Laizisten aber, seien es Türken oder Araber, erwarten voller Ungeduld das Scheitern dieses Experiments, damit sie ihre Gegner abermals marginalisieren können.

Viele arabische und westliche Regierungen begegnen dem Experiment der AKP nach wie vor mit Vorsicht. Dennoch haben sie auch die Hoffung, dass es zu einem "Modell" in der Region avancieren könnte, das dazu beiträgt, den "islamischen Fundamentalismus" zu überwinden.

Gesinnungswandel oder Täuschungsmanöver?

Das türkische AKP-Experiment kann hilfreich sein bei der Suche nach Wegen, die Mehrheit der gewaltfreien und demokratisch gesonnenen, islamistischen Reformbewegungen politisch zu integrieren. Bei den Islamisten lassen sich diesbezüglich zwei Positionen erkennen:

Einige meinen, dass die Führer der AKP ihre islamistische Vergangenheit und Gesinnung aufgegeben haben und sich bewusst im politischen Leben der Türkei integrieren wollen – was auch bedeutet, dass sie die Trennung von Religion und Politik akzeptieren.

Andere glauben, dass sich der neue Diskurs von Erdogan und seinen Parteifreunden aus den gegenwärtig in der Türkei herrschenden, politischen Umständen erklärt.

Nach dem gescheiterten Versuch Necmettin Erbakans, dem Begründer der modernen, türkisch-islamistischen Bewegung, die roten Linien der türkischen Armee – welche von den "säkularen Fundamentalisten" unterstützt werden – zu überwinden, sahen die Islamisten ihr wichtigstes Ziel darin, ihren Diskurs und ihre Taktik zu ändern.

Demnach handelt es sich bei der Vorgehensweise der AKP also nur um ein "Täuschungsmanöver", mit dem Ziel, die strategischen Schwierigkeiten der türkischen Islamisten zu beseitigen.

Sehr wenige Islamisten haben bisher versucht, positive Aspekte aus diesem Experiment herauszulesen. Und diejenigen, die so dachten, setzten sich nicht mit grundlegenden Fragen auseinander, wie z.B. die Beziehung zwischen Religion und Staat sowie die Vereinbarkeit von islamischen und europäischen Werten.

Die Fragen, die sie beschäftigen, drehten sich vielmehr um praktische Gesichtspunkte der Parteiarbeit, wie etwa die Struktur der AKP, deren Fähigkeit, Frauen und junge Menschen zu mobilisieren oder deren Erfolg bei der Überwindung der Wirtschaftskrise in der Türkei.

Arabischer Despotismus als Entwicklungshindernis

Ungeachtet der Zurückhaltung der Islamisten gegenüber der AKP, die mittlerweile seit drei Jahren an der Macht ist, sollte nicht ausgeschlossen werden, dass dieses Experiment Spuren in einigen Bewegungen des politischen Islam hinterlassen wird – insbesondere in der arabischen Welt.

So ist es denkbar, dass sich einige arabisch-islamistische Bewegungen politisch flexibler ausrichten werden, ihren bisherigen konservativen Diskurs in Glaubensfragen allmählich auflösen und bereit sind, Allianzen auf der Basis gemeinsamer Interessen – und nicht gemeinsamer Ideologien – einzugehen.

Wobei an dieser Stelle betont werden sollte, dass die türkische Demokratie, trotz ihre Mängel, die Entstehung der AKP erst möglich gemacht hat. Und sie damit den Islamisten auch die Chance zu deren Entfaltung eröffnete.

Demgegenüber ist der arabische Despotismus eines der größten Hindernisse für die politische und intellektuelle Entwicklung der arabisch-islamistischen Bewegungen, die den größten Teil ihres Weges damit verbracht haben, um ihre Existenz zu kämpfen.

Das bedeutet, dass die Reife dieser Bewegungen einige Bedingungen voraussetzt – vor allem die Notwendigkeit der arabischen Staaten grundlegende politische Reformen durchzuführen, um ein Minimum demokratischer Freiheiten zu gewährleisten.

Slaheddine Jourchi

© Qantara.de 2006

Übersetzung aus dem Arabischen von Mona Naggar

Qantara.de

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