''Wir sind die Summe unserer Verletzungen''
Frau Khoury-Ghata, Sie haben die erste Hälfte Ihres Lebens im Libanon verbracht. Welche Kindheitserinnerungen haben Sie vor Augen? Welche Orte haben Sie geprägt?
Vénus Khoury-Ghata: Wir waren vier Kinder, drei Mädchen und ein Junge. Neun Monate des Jahres lebten wir in Beirut, im Haus meines Vaters, der uns ständig schlug und terrorisierte. Ich hasste Beirut deshalb. Ganz anders die Sommer in Bscherreh - das Bergdorf im Nordlibanon, aus dem meine Mutter stammte und wo auch der große libanesische Dichter Khalil Gibran geboren wurde. Die drei Sommermonate dort waren für uns immer eine echte Befreiung. Wenn wir ankamen, zogen wir Schuhe und Socken aus und liefen wie die Kinder des Dorfes barfuß umher. Wir aßen die Früchte direkt vom Baum und spielten wunderbare Spiele. Unsere Freiheit hatte manchmal einen etwas morbiden Geschmack: Mein Onkel war ein bekannter Sargschreiner. Die Särge, die in seiner Werkstatt hochkant an den Wänden standen, nutzten wir zum Versteckspielen. Der Tod war für uns etwas ganz Normales; er schreckte uns nicht. Dieser spielerische Umgang mit dem Tod hat auch mein Schreiben geprägt.
Der tyrannische Vater ist in Ihren Erzählungen sehr präsent. Wie war Ihre Beziehung zur Mutter?
Khoury-Ghata: Diese Frau, die ihr ganzes Leben Angst vor ihrem Ehemann hatte, lehrte mich, vor keinem Mann mehr Angst zu haben. Vor keinem! Sobald ich erkenne, dass ein Mann Macht über mich ausüben will, rebelliere ich, mit aller Kraft. In meiner ersten Ehe habe ich 13 Jahre lang ausgehalten. Heute vergleiche ich mich mit jenen störrischen Ziegen aus Bscherreh, die bis ganz oben auf den Gipfel des Berges klettern und sich von nichts aufhalten lassen. Wenn ich Ziegen sehe, möchte ich ihnen manchmal um den Hals fallen.
Sie haben mehr als 30 Bücher veröffentlicht, Prosa und Lyrik, nahezu alle auf Französisch. Für Ihre Lyrik wurden Sie in Frankreich unter anderem mit dem renommierten Apollinaire-Preis ausgezeichnet. Doch Ihre Muttersprache ist Arabisch. Warum entschieden Sie sich für das Französische?
Khoury-Ghata: Als ich Anfang der siebziger Jahre nach Frankreich kam, durchlebte ich beim Schreiben einen heftigen Konflikt. In meinem Kopf schien Stahl auf Stahl zu stoßen, wie zwei Schwerter bei einem Duell. Ich übertrug beim Schreiben arabische Wendungen und arabischen Satzbau ins Französische. Das ging so bis zu dem Tag, als wir wegen des Krieges vom Libanon abgeschnitten waren und plötzlich kaum noch Arabisch lasen. Ich sagte mir: Nun musst Du Dich endgültig von deinem Arabisch verabschieden, und ich war traurig darüber. Aber heute bin ich sehr glücklich, dass ich mich für das Französische entschieden habe. Wenn ich meine Romane heute in arabischer Übersetzung lese, kommen mir die Dialoge teilweise vor wie Beton. Das Hocharabische ist oft so schwerfällig, so majestätisch. Wie soll man damit lebendige Dialoge gestalten?
Hat sich die Entscheidung für das Französische auch inhaltlich ausgewirkt?
Khoury-Ghata: Nicht wirklich. Ich bin zwar in Frankreich zu Hause, und ich habe über 30 Bücher hier veröffentlicht, doch kein einziges meiner Bücher spielt in Frankreich. Es kam mir nie in den Sinn, Franzosen zum Sprechen zu bringen. Ich hole meine Themen, Geschichten und Figuren nach wie vor von der anderen Seite des Mittelmeers herüber.
Sie haben schon als sehr junge Frau viele Höhen und Tiefen durchlaufen. Wie haben Sie es geschafft, sich aufzuraffen und weiterzuschreiben?
Khoury-Ghata: Wir sind die Summe unserer Verletzungen. Mein zweiter Mann, Jean Ghata, wurde im Jahr 1981 mit nur 52 Jahren mitten aus einem sehr erfolgreichen Leben gerissen. Ich blieb damals mit unserer kleinen Tochter allein zurück. Ich habe seither das Gefühl, dass alles, was ich liebe, zwischen meinen Fingern wie Sand zerrinnt und dass ich mit mir selbst erst dann im Reinen bin, wenn ich nicht mehr die Liebe eines Mannes suche. Stattdessen versuche ich, mich mit Hilfe des Schreibens selbst neu zusammenzusetzen. Das Schreiben hat den Platz des Mannes, des Bruders, der Liebe eingenommen.
Besonders geprägt hat Sie das Schicksal Ihres Bruders, der wegen Drogenproblemen mit 21 Jahren auf Veranlassung Ihres Vaters in die Psychiatrie eingewiesen wurde und dort im Laufe der Jahrzehnte völlig zerstört wurde, unter anderem auf Grund von Elektroschocktherapien. Seine Geschichte und die Ihrer Eltern haben Sie in mehreren Romanen verarbeitet. Wie war das?
Khoury-Ghata: Viele Jahre konnte ich meinen Bruder nicht erreichen. Erst als meine Eltern starben, fühlte ich mich endlich frei, über unsere Geschichte zu schreiben. Aber wir konnten uns nicht mehr darüber verständigen. Mittlerweile ist auch er gestorben. Die Geschichte meines Bruders wird mich immer verfolgen. Ich habe ihn sehr geliebt. Aber ich habe nicht genug dafür getan, um ihn zu retten, um ihn zu schützen.
In Ihrem jüngsten Roman, der vor kurzem in Frankreich erschienen ist, erzählen Sie die Geschichte einer Frau im Iran, die wegen angeblichen Ehebruchs gesteinigt werden soll. Auch in anderen Büchern von Ihnen, wie z.B. "Bayarmine", das auf Deutsch übersetzt wurde, zeichnen Sie ja ein sehr exotisch anmutendes Bild vom Orient. Wo ziehen Sie die Grenze zum Orientalismus?
Khoury-Ghata: Ich finde die Diskussion über den Orientalismus sehr wichtig. Und ich habe Edward Said, der zu diesem Thema gearbeitet hat, sehr verehrt. Sein Tod war ein sehr großer Verlust für die arabische Welt. Aber ich schreibe keine intellektuellen Abhandlungen, sondern Romane. Meine Romane sind doch nicht von Rosenwasser getränkt, wie die von Pierre Loti. Ich erzähle den Orient in einer Sprache, die mir gehört, die ich von niemandem geliehen habe.
Sie feiern in diesem Jahr Ihren siebzigsten Geburtstag. Für die meisten Zeitgenossinnen ist das ein Anlass, einen Gang zurückzuschalten. Sie dagegen legen noch an Tempo zu. Woher nehmen sie die Energie?
Khoury-Ghata: Ich bin sehr diszipliniert. Ich stehe jeden Morgen sehr früh auf und schreibe zunächst an meinen eigenen Romanen und Gedichten. Dann kümmere ich mich um meine Katzen, und um die Werke der anderen. Ich bin ja Mitglied von insgesamt rund einem Dutzend Literatur-Jurys. Das heißt, ich lese sehr viel. Und die Besprechungen finden oft bei mir zu Hause statt. Wir gehen dann nicht in ein Bistro, sondern essen gemütlich zusammen. Natürlich libanesisch!
Interview: Martina Sabra
© Qantara.de 2007