Ein Fest der Fusionen
Auf den vielen Bühnen des Gnawa-Festivals hat sich ein Ritual eingespielt: Zunächst gibt es ein Konzert eines eingeladenen Weltmusikers, bei dem sich das Publikum einhören und mit seiner Musik vertraut machen kann. Dann folgt auf derselben Bühne ein Konzert einer Gnawa-Gruppe, die später mit dem Weltmusiker fusionieren wird.
Die Gnawa-Konzerte erfreuen sich bei den Marokkanern größter Beliebtheit. Erstbesucher aus Europa dagegen sind irritiert, denn die Musik klingt für das ungeübte Ohr archaisch und scheppernd. Das marokkanische Publikum aber kennt die Texte, obwohl sie mit Wörtern aus dem westafrikanischen Bambara und Wolof versetzt sind. Alle singen mit, ihre Tänze dazu werden immer ekstatischer. Insbesondere junge Mädchen machen sich einen Sport daraus, der Kontrolle ihrer Mütter und Brüder zu entwischen und sich kollektiv in Trance zu tanzen, bis sie umkippen.
Dem Gnawa-Konzert folgt die eigentliche Essenz des Festivals, die Fusion der Weltmusiker mit den Gnawa. Dabei improvisieren die Gnawa fast gar nicht, sondern vertrauen auf ihr Repertoire afrikastämmiger, pentatonisch und polyrhythmisch gespielter Musik. Atemberaubend, wie schnell und harmonisch diese traditionelle Musik mit den Weltmusikern zusammengeht. Jede Fusion entwickelt eine eigene, neue Farbe.
Wie ein Wiedersehen mit dem verlorenen Bruder
Es verwundert kaum, dass die besten Fusionen zwischen in Afrika wurzelnden Musikern und den Gnawa stattfinden, denn die Bruderschaft der Gnawa stammt von einstmals aus Westafrika nach Marokko verschleppten Sklaven.
"Für mich war es eine instinktive, nonverbale Verständigung mit den Gnawa-Musikern", sagt der auf Guadeloupe geborene Jazz-Saxophonist Jacques Schwarz-Bart. Verbindend seien Rhythmen und die Pentatonik, vor allem aber das Prinzip des Call and Response, Vorsänger und Chor, etwas, was der haitianische Voodoo-Priester Erol Josué "die afrikanische Bibel" nennt. Da sind die gemeinsamen Geister, die der Voodoo wie der Gnawi aufruft. Schwarz-Bart empfindet ihr Zusammentreffen wie das Wiedersehen mit einem längst verlorenen Bruder. "Wir lernen in dieser Begegnung Teile unserer Identität kennen, wir spiegeln uns darin, aber in neuen Farben, die uns alle stärken."
Unangefochtener Star des diesjährigen Festivals ist die aus dem Bürgerkriegsland Mali stammende Sängerin Oumou Sangaré mit ihrer Gruppe. Spät am Abend tritt sie auf der größten Bühne vor der Stadtmauer auf. Dicht drängen sich die marokkanischen Zuhörer, denn die Musik Westafrikas findet in Südmarokko großen Anklang. Hinzu kommt eine Bühnenshow, wie sie bei großen Popstars üblich ist: schöne Tänzerinnen und Backroundsängerinnen, ein anhaltender Flirt zwischen Sangaré und ihren männlichen Musikern.
Frühstück mit Diva
Rhythmus und Melodieführung folgen ganz dem Stil des Wassoulou, einer in Westafrika sehr populären Musik, die von traditionellen Jagdliedern abstammt und sowohl auf traditionellen wie auf modernen Instrumenten gespielt wird. Völlig selbstverständlich fügen sich später die Gnawa-Musiker mit ihrem dreiseitigen Schlagbass, dem Gembri, und den klirrenden Matallkastagnetten in das Ensemble. Und das Publikum erlebt beide zusammen, die westafrikanische und die marokkanische Variante der Musik aus dem Sahelgürtel, als Aufwertung und Bestärkung.
Schließlich trägt Sangaré einen ergreifenden Appell für den Frieden in ihrem Land Mali vor. Einige Marokkaner sagen mir am nächsten Tag ungefragt, dass dieser Friedensappell das Ergreifendste in Sangarés Konzert war. Ein weiteres Indiz, wie nah den Marokkanern die Ereignisse in Westafrika sind.
Die mit 44 Jahren etwas fülliger gewordene Diva ist auch unter ihrer zur Maskerade geratenen Schminke immer noch schön. Nicht nur deshalb bemühen wir uns um ein Interview mit ihr. Nachdem das Pressebüro des Festivals zunächst vollkommen abgetaucht schien, bekommen wir überraschend eine Einladung zum Frühstück mit ihr.
Oumou ist noch müde vom Konzert, aber schon wieder tadellos geschminkt. Wie schon auf der Bühne trägt sie ein enges, tief dekolletiertes Kostüm, das ihre Rundungen unterstreicht. Ausgesprochen freundlich und sehr humorvoll bestätigt sie uns zwischen ununterbrochen klingelnden i-Phones und i-Pad-Nachrichten die enge musikalische Verbindung zwischen ihrer und der Gnawa-Musik. Ursache sei der Sklavenhandel, in dem die Sklaven ihre Kultur in die Länder mitbrachten, in die sie verschleppt wurden. Dort haben sie sich vermengt mit den einheimischen Einflüssen: So sei bei den Gnawa der orientalische Einfluss unüberhörbar, im US-amerikanischen Blues der englische. Das entscheidende gemeinsame Merkmal bleibe aber der Rhythmus.
Sanfte Rebellen
Auf ihr großes Engagement für Frauenrechte angesprochen, für das sie bereits international ausgezeichnet wurde, wartet sie mit einer eigenen Theorie auf: Wo immer man einen intelligenten Menschen trifft, wird man feststellen, dass auch die Mutter schon intelligent war. Sicher sei der Vater wichtig, die Mutter aber sei dem Kind so viel näher, dass ihre Intelligenz auf das Kind abfärbe. Deshalb sei es nicht nur für die Frauen, sondern für die ganze Gesellschaft von äußerster Wichtigkeit, Frauen zu fördern.
Mit Réda Allali, dem Sänger und Gitarristen der Band Hoba Hoba Spirit aus Casablanca, suche ich die Diskussion über die Veränderungen in der arabischen Welt. Die Rockband Hoba Hoba Spirit ist für ihre mutigen, oft respektlosen Texte bekannt. Réda erklärt, dass Marokko nicht Tunesien, Ägypten, Libyen oder gar Syrien sei, sondern so wie Jordanien ein reformorientiertes Königreich, in dem der König zugleich Garant für Stabilität und eine relativ große Pressefreiheit sei.
Der liberale König Mohammed sei die unangefochtene Autorität im Lande, die von fast allen innig geliebt wird. Dieser Äußerung kommt aus dem Munde des Sängers einer vormals als sehr rebellisch geltenden Gruppe, die immer wieder viel Mut bewiesen hat in der Auseinandersetzung mit der marokkanischen Obrigkeit. Er sei Musiker, nicht Politiker, sagt Réda. Im anschließenden Konzert lässt es die Gruppe richtig krachen. Das Publikum kennt die Texte, singt sie mit. Unter marokkanischen Jugendlichen verfügt Hoba Hoba Spirit über eine große Fangemeinde.
Woodstock Marokkos
Mit Joachim Kühn, dem in Deutschland sehr bekannten Jazzpianisten, der aus der DDR stammend und von der klassischen Musik kommend über Jazz, dann Freejazz schließlich zur Weltmusik und den Gnawa gefunden hat, müssen wir uns das Interview per Zuruf vom Bühnenrand aus ergattern. Er ist ein absolut lockerer Typ. Seit seiner Kindheit fällt er in Trance, sobald er ein Instrument spielt. Schon sein erster Klavierlehrer habe ihm das auszutreiben versucht. Für seine derzeitige Formation hat er den Gnawa-Musiker Majid Bekkas gefunden, der als einer der wenigen Gnawa ein wirklicher Improvisator ist.
Mit den Geistern, denen sich die Gnawa in Trance zuwenden, hat Kühn trotzdem wenig im Sinn. Er scheut sie. Berichtet lieber vom "glückliche Leben", das er führt: nur die Musik machen zu müssen, die ihm gefällt, auf Ibiza in einem Haus mit Tonstudio mitten in einem Naturpark zu leben, zurückgezogen und den ganzen Tag mit nichts als Komponieren und Improvisieren beschäftigt ... Als wir uns von ihm verabschieden und unseren Tee zahlen, kostet er mehr als eine ganze marokkanische Mahlzeit.
Hier wird die zunehmende Kommerzialisierung des Festivals sichtbar. Auf drei großen und acht kleinen Bühnen hatte es 2001 eine solche Fülle an Konzerten vor allem einheimischer Gruppen gegeben, dass jede Tour durch die Stadt zu einer musikalischen Entdeckungsreise wurde. Alle Konzerte waren damals kostenlos und es schien, als habe halb Marokko sich auf den Weg nach Essaouira gemacht. Die marokkanische Presse schrieb vom "Woodstock Marokkos".
Kommerz und Sicherheitswahn
Gewunden erklärt der junge Gnawa-Meister Hassan Boussou, warum die Zahl der Bühnen und einheimischen Gruppen beim Festival immer weiter reduziert, die kostenlosen Konzerte minimiert, der Raum für das zahlungsunfähige Publikum verkleinert, die Eintrittspreise gestiegen sind: Die Unkosten steigen auch! Ich weise ihn darauf hin, dass in der marokkanischen Zeitung Al Massae gerade die Erhöhung des Festival-Budgets von 1,06 auf 1,105 Mio. Euro gefeiert wurde, und frage, wohin das Geld geht. Diese Frage kann er nicht beantworten. Die Musiker selbst bekämen jedenfalls nicht mehr Geld.
Diese Kommerzialisierung führt zu einem unübersehbaren Rückgang marokkanischer Besucher. Wahrscheinlich hat die Festivalleitung sich auf die zahlungskräftigere europäische Kundschaft verlegt. Durch die Unsicherheit in der arabischen Welt, die in Europa offenbar auch mit Marokko in Verbindung gebracht wird, kommen seit letztem Jahr aber auch die Europäer nicht mehr so zahlreich.
Dafür greift die Polizei rigoroser denn je gegen "gefährliche" Marokkaner durch, die sich Europäern nähern. Als ich mich bei einem der wenigen, kostenlosen Konzerte unter die marokkanischen Zuschauer mische und einen jungen Marokkaner anspreche, wird er mir kurz darauf von Polizisten in Handschellen vorgeführt. Ich werde aufgefordert, meinen Rucksack auf entwendete Dinge zu untersuchen. Nichts fehlt. Und doch fordern die Polizisten mich zum Abschied auf, besser auf mein Gepäck zu achten, denn hier gebe es sehr gefährliche Diebe.
Andreas Kirchgäßner
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Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de