Gewalt neutralisieren – Perspektiven auf den radikalen Islam

Abdelwahab Meddeb gehört zu den Vordenkern eines progressiven Islamverständnisses. Sein Buch "Die Krankheit des Islam" löste in der muslimischen Welt heftige Debatten aus. Er plädiert für die Revision koranischer Aussagen.

Von Abdelwahab Meddeb

​​Dem Islam geht es nicht gut. Genauer gesagt, er ist krank. Der Schock, den die Terroranschläge des 11. September 2001 auslösten, hat mich dazu veranlasst, diese Krankheit in mittlerweile vier Büchern zu diagnostizieren.

Sie besteht, kurz zusammengefasst, in der Gewaltanwendung im Namen Gottes. Diesen Punkt nun gilt es genauer zu erörtern: Handelt es sich dabei um ein spezifisches Übel des Islam, oder haben wir es mit einer Struktur zu tun, die religiösen Konstruktionen generell innewohnt?

Vieles weist darauf hin, dass religiös motivierte Gewalt kein inhärentes Problem des Islam ist. Sie ist sogar in den Religionen des indischen Subkontinents virulent, die wir automatisch mit einer im Geist der Gewaltlosigkeit gelebten Spiritualität assoziieren.

Die Prädisposition zur Gewalt manifestiert sich also auch ausserhalb der Sphäre der monotheistischen Religionen, deren gegenseitige Anfeindungen - auch daran soll erinnert werden - dem Brudermord gleichkommen.

Von Moses zu Mohammed

Wenn wir uns nun den monotheistischen Religionen zuwenden, dann stellt man fest, dass der Krieg im Namen des Herrn biblisch war, noch bevor er islamisch wurde. Hier sei lediglich auf das Massaker verwiesen, welches Moses aus Zorn über den Rückfall seines Volkes ins Heidentum anrichten liess.

Nach dem "Tanz um das Goldene Kalb" metzelten die Leviten auf Order ihres Propheten und Oberpriesters im Laufe eines Nachmittags dreitausend Menschen nieder. Josua war Mose würdiger Nachfolger - davon zeugt das Schicksal der Bewohner von Jericho nach dem Fall ihrer Stadt. Was die Gewalt angeht, kann man den Propheten des Islam also in der direkten Nachfolge Mose sehen.

Der berühmte "Schwertvers" im Koran (4. Sure, 5), der die Tötung der Ungläubigen gebietet, wie auch der Vers "vom Kriege" (4. Sure, 29), der zum Kampf gegen Juden und Christen aufruft, haben beide einen alttestamentlichen Anklang. Und aus diesen Versen nährt sich der mörderische Fanatismus der radikalen Islamisten.

Wenn die Ausübung göttlich verordneter Gewalt den Offenbarungsreligionen eingeschrieben scheint, dann existiert doch ein gradueller Unterschied zwischen dem Judaismus und dem Islam -in dem Sinne, dass der Letztere dem Ersteren eine universale Dimension verleiht.

Das Judentum führte den Krieg im Namen des Herrn einzig um das Heilige Land. Der Islam dagegen weitet den Horizont der Eroberung auf die ganze Welt aus. Die radikalen Islamisten haben den Jihad zwar optimiert, aber sie haben ihn nicht erfunden; er war der Motor der islamischen Expansion.

Als Zeugen zitiere ich einen chinesischen Chronisten aus dem 10. Jahrhundert: Er schildert, wie die muslimischen Truppen sich kühn ins Gefecht stürzten, um das Martyrium zu erlangen, nachdem ihr Anführer ihnen mit feurigen Worten die Paradiesesfreuden geschildert hatte, die sie nach einem Tod auf dem Wege Gottes erwarteten.

Das Evangelium ist fern von solcher Aufstachelung zur Gewalt. Entsprechend verwundert es, dass die Christen im Lauf der Geschichte dennoch zu massiver Gewalt gegriffen haben; darin liesse sich nachgerade ein Verrat ihrer Botschaft ausmachen.

Gewiss: Augustin entwickelte die These vom "gerechten Krieg", mittels dessen die Errungenschaften des Staates gegen die Angriffe der Barbaren verteidigt werden sollten. Dabei handelt es sich zwar nicht um einen Aufruf zum Glaubenskrieg; doch der Gelehrte von Hippo sah sich immerhin genötigt, eine Haltung zu legitimieren, die - wie ihm sehr wohl bewusst war - nicht dem Geist des Evangeliums entsprach.

Aber es sollte noch fast tausend Jahre dauern, bis das Christentum mit dem Kreuzzugsgedanken eine dem Jihad vergleichbare Idee hervorbrachte.

Die Botschaft und ihr Kontext

​​Ich rufe diese Dinge nicht in Erinnerung, um die gegenwärtige Krankheit des Islam zu rechtfertigen, sondern vielmehr um aufzuzeigen, dass die Botschaft eines religiösen Urtexts übertreten, ja sogar weitgehend in den Wind geschlagen werden kann.

Wenn das Christentum sich nicht an die vom Evangelium gebotene Friedfertigkeit und Duldsamkeit gehalten hat, dann müsste es umgekehrt auch möglich sein, die Tendenz zu Krieg und Gewalt in der koranischen Botschaft zu neutralisieren. Daraufhin zielt die moderne Interpretation des Islam ab, insbesondere indem sie den historischen Kontext hervorhebt, in welchem die koranische Botschaft ausgesandt und empfangen wurde.

Diese Neutralisierung durch den Einbezug des Kontexts ist unerlässlich, nicht nur im Blick auf die Gewaltproblematik, sondern auch auf die zahlreichen anthropologischen Anachronismen, welche die Scharia, das aus dem Buchstaben und dem Geist des Korans entwickelte Rechtsverständnis, mit sich führt.

Was die Gewalt angeht, wird man vor allem die Staaten der islamischen Welt dahingehend in die Verantwortung nehmen müssen, dass sie die Idee des Jihad, des heiligen Krieges, neutralisieren. Denn diese steht in offenem Widerspruch zur Partizipation dieser Staaten im gemeinsamen Streben der Nationen nach der kantischen Utopie des "ewigen Friedens" - einer Idee, die trotz anhaltenden Kriegen, trotz dem hegemonialen Auftreten der Grossmächte und den Bemühungen anderer Nationen, mit ihnen gleichzuziehen, doch nach wie vor den Geist der Gegenwart bestimmt.

Und zeigt sich heute nicht gerade in der Universalität der hegemonialen Bestrebungen auch wieder die Diversität der menschlichen Kulturen? Liesse sich die Tatsache, dass mittlerweile China, Indien und die arabischen Ölstaaten ihren Platz neben Europa und Amerika beanspruchen, nicht unter diesem Gesichtspunkt sehen?

Es ist unabdingbar, den islamischen Ländern den Blick für die Veränderungen der Gegenwart zu öffnen. Hinsichtlich der religiösen Identität betrachtet der Islam die Christen noch immer, als wären sie die alten Feinde aus Kreuzfahrerzeiten. Doch die Konzepte von Nation und Volk haben den Stellenwert der Religion längst relativiert.

Und jetzt, wo sogar der Staat ins postnationale Zeitalter getreten zu sein scheint, hat die religiöse Determinante nochmals an Bedeutung verloren. In Europa ist sie nur mehr ein Attribut zum primären und prioritären Begriff des Staatsbürgers. Und dieser Begriff wiederum impliziert ein Rechtsverständnis, das sich in der heutigen Zeit nicht mehr an religiösen Kategorien orientiert.

Wenn der Islam gesunden und seinem eigenen Fluch entrinnen will, dann wird er sich auf einem post-islamischen Terrain einrichten müssen, das geschichtlich auf gleicher Höhe liegt wie die Lebenswelten von Juden und Christen. Das ist unabdingbar, wenn die Gemeinschaft der Nationen als solche funktionieren soll.

Aber die islamischen Länder - insbesondere Saudiarabien -geben sich damit zufrieden, ihre Bürger auf einen moderaten Islam zu verpflichten, um sie von den extremistischen Kreisen fernzuhalten. Mittels theologischer Argumentation versucht man diese Letzteren zu isolieren, indem man sie mit dem Begriff des ghulu belegt - des Unmasses, welches der Koran ablehnt und geisselt.

Muslime aus freier Wahl

Das ist ein lobenswerter Schritt, aber ach! so ungenügend und furchtsam, besonders im Blick auf die islamische Gemeinde in Europa. Dieser freilich können wir eben jenes post-islamische Terrain erschliessen helfen, indem wir die in unseren Breiten lebenden Muslime dazu ermutigen, in Gewissensfreiheit und im Rahmen des positiven Rechts zu leben und sich von den Bindungen an die Scharia zu lösen.

So werden sie als Muslime aus freier Wahl eine spiritualisierte Form ihrer Religion praktizieren können, die sich aus der reichen mystischen Tradition ihres Glaubens, dem Sufismus, nährt.

Abdelwahab Meddeb

© Qantara.de 2008

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