Am gesellschaftlichen Rand

Viele Flüchtlinge, die in diesen Tagen an die Tore Europas klopfen, stammen aus Afghanistan. Die meisten von ihnen kennen ihre Heimat allerdings nicht mehr, da sie bereits in der zweiten Generation im Nachbarland Iran leben. Über die Situation der afghanischen Flüchtlinge in der Islamischen Republik informiert Ghasem Toulany.

Von Ghasem Toulany

Bis heute beschwören bestimmte politische Kreise im Iran die "Gefahr der schrumpfenden Bevölkerung" des Landes und warnen vor "ausbeuterischen Mächten", die angeblich darauf abzielten, die schiitische Bevölkerung auf einem niedrigen Stand zu halten. Diese Verschwörungstheorie wurde bereits von Ex-Präsident Mahmud Ahmadinedschad bemüht, der vor einigen Jahren Familien finanzielle Vergünstigungen für ihre neugeborenen Kinder in Aussicht stellte, obwohl schon damals die Jugendarbeitslosigkeit im Iran dramatisch gewachsen war.

Auch die zahllosen afghanischen Flüchtlinge, die in den vergangenen Jahrzehnten in die Islamische Republik kamen, werden an dieser Situation wohl kaum etwas ändern. Sie werden ohnehin mehr als Last, denn als Segen empfunden. Dabei könnten die meisten afghanischen Flüchtlinge - zumindest theoretisch – relativ gut in die iranische Gesellschaft integriert werden. Denn viele Afghanen sprechen die gleiche Sprache wie die Iraner und gehören der gleichen Religion an.

Seite an Seite gegen den irakischen Erzfeind

Seit dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan im Jahr 1979 suchen zahlreiche Afghanen im Nachbarland Iran Schutz. Die Islamische Republik hatte in den ersten Jahren ihrer Gründung afghanische Flüchtlinge nicht zuletzt aus ideologischen Überlegungen teilweise mit offenen Armen empfangen. Man wollte die "afghanischen Brüder" in ihrem Kampf gegen die "sowjetischen Aggressoren" unterstützen. Viele afghanische Flüchtlinge haben wiederum Seite an Seite mit dem iranischen Militär während des achtjährigen Krieges gegen den Irak gekämpft.

Afghanische Flüchtlinge in Kabul; Foto: DW/H. Sirat
Auf der Flucht im eigenen Land: Mehr als 100.000 Menschen wurden allein in diesem Jahr innerhalb Afghanistans vertrieben. Etwa eine Million Afghanen ist im eigenen Land auf der Flucht. Die Fünf-Millionen-Stadt Kabul hat längst keinen Platz mehr für die Neuankömmlinge, die in provisorischen Hütten und Zelten hausen.

Heute leben unterschiedlichen Schätzungen zufolge rund drei bis fünf Millionen Afghanen im Iran. Nur wenige von ihnen haben eine befristete Aufenthaltserlaubnis, die meisten werden als "illegal" stigmatisiert, obwohl viele Afghanen sogar im Iran geboren wurden. Nach Angaben der iranischen Arbeitsministerium gibt es zur Zeit mehr als vier Millionen "ausländische Arbeitnehmer" in der Islamischen Republik, darunter knapp drei Millionen sogenannte "illegale Ausländer", wie die afghanischen Flüchtlingen von den iranischen Behörden bezeichnet werden.

Fehlende Gleichberechtigung, fehlende Anerkennung

Solange es der iranischen Wirtschaft noch relativ gut ging und die Sanktionen gegen die Islamsiche Republik noch nicht umgesetzt waren, wurde auch vielen afghanischen Flüchtlingen die "iranische Gastfreundschaft" zuteil, obwohl die meisten von ihnen vor allem in Flüchtlingslagern und Ghettos lebten. Es fehlte aber von Anfang an eine systematische Integration afghanischer Flüchtlinge in die iranische Gesellschaft. Das hat unter anderem dazu geführt, dass auch die zweite Generation der Afghanen im Iran nach mehr als 35 Jahren immer noch als "Flüchtlinge" - und nicht als gleichberechtigte Mitbürger - betrachtet wird.

Elham ist eine im Iran geboren Afghanin, die vor Kurzem mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern im Alter von vier und zehn Jahren zusammen mit vielen anderen afghanischen Flüchtlingen nach Deutschland kam. Die Familie lebt nun seit mehr als einem Monat in einer Erstaufnahmeeinrichtung in Nordrhein-Westfallen. Elham stammt aus einer afghanischen Flüchtlingsfamilie im ostiranischen Mashhad. Ihr Mann, Mitte 30, ist bereits als Kleinkind mit seiner Familien aus Afghanistan geflohen. Das Paar hatte sich in Mashhad kennengelernt. Nach der Heirat zogen beide nach Teheran um, wo der Mann leichter eine Arbeit auf den vielen Baustellen der iranischen Hauptstadt finden konnte.

Fremde Heimat

Elhams Kinder kamen in Teheran zur Welt und haben ihre Heimat Afghanistan nie gesehen. Auch im Iran wollte die Familie nicht bleiben und kam nach Europa. Viele "iranische Afghanen" wie Elham und ihre Familie haben oft keine andere Wahl, als "ihrer Heimat" den Rücken zu kehren und an die Tore Europas zu klopfen. "Wir sind in Afghanistan genauso fremd wie in Deutschland. Und in unserem Herkunftsland sind wir unerwünscht", meint Elham, die wie ihre beiden Kinder Persisch mit starkem Teheraner Akzent spricht.

Der Aufenthalt vieler Afghanen im Iran ist nur "vorübergehend und befristet", wie es in der persischen Behördensprache heißt, genau wie deren Papiere, sofern sie überhaupt welche besitzen. Obwohl afghanische Gastarbeiter heute ein praktisch unverzichtbarer Faktor für die iranische Wirtschaft geworden sind, sind sie zumeist gesellschaftlich isoliert. Ihre fehlende Integration hat einerseits damit zu tun, dass eine systematische Einbürgerung in Iran grundsächlich nur in Einzelfällen möglich ist. Andererseits ist die gesellschaftliche Akzeptanz von Flüchtlingen aus ärmeren Ländern im Iran generell nicht besonders groß.

Ghasem Toulany

© Qantara.de 2015

Ghasem Toulany ist iranischer Journalist und Dozent der Iranistik an den Universitäten Göttingen und Bonn.