Der unsichtbare Feind

Al-Qaida im Maghreb hat in Tunesien eine Basis aufgebaut. Von dort aus soll die Brigade Okba Ibn Nafaa die Anschläge auf das Bardo-Museum geplant haben. Aus Kasserine berichtet Beat Stauffer.

Von Beat Stauffer

Kasserine, einer der Geburtsorte der tunesischen Revolution. Mehr als 50 Menschen sind hier in den letzten Tagen vor der Flucht des Diktators Ben Ali erschossen worden. Doch auf die Revolutionsdividende wartet die Bevölkerung der unscheinbaren Provinzstadt bis heute. Ganz im Gegenteil: Es ist hier noch schlimmer geworden als zu den Zeiten Ben Alis, sagen alle. Und nicht genug damit: Seit zwei, drei Jahren haftet an Kasserine ein übles Etikett: Die Provinz ist gewissermaßen zur Hauptstadt des Dschihadismus geworden, seit sich die Brigade Okba Ibn Nafaa in den nahe gelegenen Chambi-Bergen verschanzt hat.

Kasserine zeigt sich dem Besucher als langweilige, etwas heruntergekommene Provinzstadt, die kaum Charme verströmt. Tagsüber wird Normalität zelebriert; die Menschen gehen ihren Alltagsbeschäftigungen nach. Die Cafés sind schon am Nachmittag voller Männer; die Älteren spielen Karten, die Jungen - schwarze Lederjacken, Gel im Haar – schauen Fernsehen. Es ist laut, und es wird geraucht auf Teufel komm raus.

Im Armenhaus von Tunesien

Wer allerdings die Hauptstraße verlässt, stößt schon bald auf bittere Armut. Ein ausgedehnter Markt, auf dem vor allem gebrauchte Kleider und Schuhe gehandelt werden, erinnert in seiner Schäbigkeit an die Sahelzone. Nur ein paar hundert Meter davon entfernt, tun sich Ziegen neben umgestürzten Mülltonnen an einer wilden Abfalldeponie gütlich. Ein paar Frauen sitzen daneben auf einem Mäuerchen.

Ein ähnliches Bild bietet sich in den armen Vorstädten, etwa der Cité Ennour. Hier ist augenfällig, weshalb die Stadt zu den ärmsten ganz Tunesiens gehört. Schäbige Wohnhäuser, vergammelte öffentliche Einrichtungen, Staub und Dreck. In diesen Quartieren fanden Anfang Januar 2011 die Aufstände statt. Es waren fast ausschließlich junge Menschen, die nichts zu verlieren hatten. Es ist zu bezweifeln, dass es heute anders geworden ist. Nach wie vor weist die Provinz Kasserine die höchste Arbeitslosen- und Analphabetenrate des Landes auf.

Junge, arbeitslose Tunesier. Foto: DW/ G. Tarak
So kann es aussehen, wenn man ohne Arbeit ist: Kasserine, eine Revolutionsstadt im Herzen Tunesiens, ist für viele junge Menschen selbst nach der Arabellion perspektivloses Hinterland geworden.

Nach Einbruch der Dunkelheit leeren sich die Straßen der Stadt rasch, und bereits gegen 21 Uhr ist die Stadt menschenleer. Dafür patrouillieren schwer bewaffnete Sicherheitskräfte durch die Straßen, und die wenigen Banken sind schwer gesichert, als sei dort der Goldschatz des Landes deponiert. Die Einheimischen wissen, weshalb sie lieber in ihren Häusern bleiben: Immer wieder sind kleine Stoßtrupps der Al-Qaida-Brigade bis ins Stadtzentrum vorgedrungen, haben Soldaten getötet und haben gar versucht, das Haus des ehemaligen Innenministers zu stürmen.

„Die Dschihadisten sind mitten unter uns“

Doch befinden sich die Terroristen tatsächlich noch immer im Chambi-Massiv, dessen Gipfel die höchste Erhebung Tunesiens markiert? Viele Menschen in Kasserine äußern ihre Zweifel. Die Dschihad-Kämpfer hätten im letzten, sehr harten Winter nie und nimmer monatelang in den verschneiten Chambi-Bergen überleben können. „Die Dschihadisten sind mitten unter uns“, sagt Tarek Khadraoui, Präsident der kleinen Nichtregierungsorganisation Amal - zu deutsch „Hoffnung“-, welche sich vor allem mit Bildungsprojekten beschäftigt. Genauer: Sie lebten unerkannt in den armen Vorstädten, etwa der Cité Ennour. Von dort aus würden sie ihre Anschläge vorbereiten, würden sie die wenigen Kämpfer versorgen, die im Gebirge geblieben seien und Mitteilungen über soziale Netzwerke verbreiten. Aus der Cité Ennour stammt auch einer der beiden Attentäter auf das Bardo-Museum.

Für Tarek Khadraoui ist es kein Zufall, dass sich junge, arbeits- und perspektivlose Männer in diesen armseligen, verwahrlosten Vierteln radikalen Gruppen zugewandt haben. Er fordert, man müsse mit ihnen den Dialog suchen, sie dem Einfluss der Extremisten entziehen. „Nur mit einer wirklich neuen Politik, die den jungen Menschen im Hinterland echte Perspektiven gibt, lässt sich das Problem lösen“, sagt Khadraoui. Der seit Jahren arbeitslose Petrochemiker weiss, wovon er redet.

Ähnlich sehen es auch andere junge Aktivisten. So etwa Héjr Salhi, eine junge Kommunikationsfachfrau. Schon vor der Revolution sei die Lage in Kasserine schwierig gewesen, heute sei sie fast hoffnungslos. „Aus dieser Wut heraus ist der Terrorismus entstanden“, sagt Salhi. In Tunesien kämpften heute die „Barone des Geldes und Politiker“ gegen die Bevölkerung. Der Staat müsse dringend das Vertrauen der Bevölkerung zurückgewinnen.

Kleine Schritte gegen die Resignation

Erste Schritte in diese Richtung wollen die jungen Aktivisten bereits erkennen. So praktiziert etwa der neue, erst 41-jährige Gouverneur der Provinz Kasserine im Gegensatz zu seinen Vorgängern einen offenen, dialogbereiten Stil. Bei einem Treffen in seinem Büro beschreibt Atef Boughatass ohne Umschweife die riesigen Herausforderungen, vor denen er täglich stehe. Doch Boughatass glaubt fest daran, dass es dem tunesischen Staat gelingen wird, diese Probleme zu lösen, etwa mit der Schaffung einer Freihandelszone entlang der algerischen Grenze.

Gouverneur von Kasserine. Foto: Beat Stauffer
Ohne Angst: Atef Boughatass, Gouverneur von Kasserine, spricht offen über die politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen seiner Region. Dennoch hält er den Einfluss von terroristischen Kämpfern auf das Land Tunesien für zeitlich begrenzt. Es seien die letzten Tage der Terroristen, meinte er zu Beat Stauffer.

Was den Terrorismus betrifft, so ist der Gouverneur kategorisch: Der Angriff auf das Bardo-Museum sei ein „Zeichen der Schwäche“ gewesen. „In den Chambi-Bergen leben höchstens noch 20 bis 30 Kämpfer“, sagt Boughatass. „Es sind die letzten Tage der Terroristen.“ Wenige Tage nach dem Gespräch hat die Al-Qaida-Brigade allerdings einmal mehr zugeschlagen und in der Nähe von Kasserine fünf Soldaten in einem Hinterhalt erschossen.

Es gibt auch ein anderes Kasserine. Es findet sich etwa im kleinen Kulturzentrum, das der Tänzer und Choreograph Walid Kadri in einem schlichten Wohnhaus eingerichtet hat. Kadri will ein sichtbares Zeichen setzen gegen die weit verbreitete Resignation, will Jugendlichen andere Horizonte eröffnen. Ungefährlich ist dies nicht, sehen doch Dschihadisten in Tanz und Musik eine gefährliche Verirrung, die es zu bekämpfen gilt.

Zu den Versuchen, in der von Arbeitslosigkeit, Armut und Terrorismus gebeutelten Region Hoffnung zu vermitteln, gehören auch die Projekte der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit. Ein Büro mit mehreren lokalen Mitarbeitenden befasst sich vor allem mit der Verbesserung der Wasserversorgung in armen Dörfern in der Umgebung von Kasserine. Und da sind auch ein paar Unternehmer, die allen Schwierigkeiten zum Trotz weitermachen wollen. Zu ihnen gehört Mohamed Rachdi Bannani. Er verarbeitet die in der Region reichlich vorhandenen Kaktusfeigen zu Lebensmittelkonserven und kosmetischen Produkten. Sein Betrieb liegt direkt am Fuß des Chambi; das ganze Gebiet ist militärische Sperrzone.

Wir verlassen Kasserine. Der Chambi-Berg wird von den Strahlen der kräftigen Frühjahrssonne in ein warmes Licht getaucht. Nichts erinnert an die Massaker und an die Präsenz von Al-Qaida vor den Toren Europas. Dafür stehen einige Dutzend Fahrzeuge an einer Kreuzung. Ihre Lenker, so ist zu erfahren, gönnen sich ein Feierabendbier außerhalb der Stadt.

Beat Stauffer

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