Ruf nach echter Demokratisierung
Eigentlich wollte Algeriens Regime mit der Verfassungsänderung die Protestbewegung – in Algerien meist „Hirak“ (Arabisch für „Bewegung“) genannt – endgültig ausbremsen und mit kosmetischen Reformen abspeisen. Doch die zuletzt immer autoritärer agierende Staatsführung ist mit dem Versuch, sich neue Legitimität zu verschaffen und den Hirak in die Defensive zu drängen, gescheitert.
Zwar wurde die neue Verfassung bei dem Referendum mit 66,8 Prozent der Stimmen angenommen, die Wahlbeteiligung lag mit nur 23,7 Prozent aber auf einem historischen Tiefststand. Selbst diese Zahl könnte noch geschönt worden sein, schließlich gelten Wahlen in Algerien seit Jahrzehnten als systematisch manipuliert. Im Vorfeld des Referendums vom 1. November hatte es die Regierung zudem unterlassen, die Wahlgesetzgebung adäquat zu reformieren und somit eine transparente Abstimmung zu gewährleisten.
Entsprechend blieb Algeriens Bevölkerung den Urnen am Wahltag weitgehend fern. Schlangen vor Wahllokalen suchte man vergeblich. Stattdessen gab es Proteste, gestürmte Wahlbüros und bissige Satire. In mehreren Städten Ostalgeriens und der traditionell aufsässigen Provinz Kabylei, einer mehrheitlich von Berbern bewohnten Region östlich von Algier und eine Hochburg der Opposition, hatten Demonstranten mit Schlitzen für Wahlzettel versehene Mülltonnen aufgestellt und warfen selbstgemalte Stimmzettel symbolisch in den Abfall.
In zahlreichen Städten und Dörfern der Kabylei und Ostalgeriens wurde friedlich gegen die Abstimmung protestiert. In einigen Ortschaften hatten Demonstranten aber Wahllokale gestürmt und Stimmzettel auf der Straße ausgekippt oder angezündet. Angesichts der Proteste brachen die Behörden den Wahlprozess in unzähligen Kommunen in Ostalgerien sogar gänzlich ab.
Aufwind und Verstärkung zugleich
Überraschend war eine derart unruhig verlaufende Wahl keineswegs, hatten doch zahlreiche, dem Hirak nahestehende Kräfte zum Boykott der Abstimmung aufgerufen. Für den Hirak ist die erfolgreiche Boykottkampagne ein Hoffnungsschimmer. Erstmals seit März bekam die Bewegung wieder deutlich mehr Zulauf.
Ihre Hochzeit war im Frühjahr 2019 gewesen, wo fast täglich hunderttausende Demonstranten durch algerische Städte zogen und den Rücktritt des seit 1999 amtierenden Präsidenten Abdelaziz Bouteflika forderten. Im April 2019 trat dieser tatsächlich zurück, doch das Regime blieb. Die Armee übernahm de facto das Ruder und ließ auf Druck der Straße dutzende Bouteflika-Vertraute verhaften und vor Gericht stellen.
Schnell war klar, dass die Armee auf die Forderung des Hirak nach einer echten politischen Öffnung nicht eingehen würde. Sie nutzte die Krise vielmehr dafür, in den eigenen Reihen aufzuräumen und Bouteflikas Fraktion im Machtapparat auszuschalten.
Seither versucht das Regime, die Protestierenden zu besänftigen, ohne eine echte Demokratisierung einleiten zu müssen. Doch der Hirak erwies sich als äußerst widerstandsfähig, hatte er doch aus der eigenen Geschichte und dem Scheitern des sogenannten „Arabischen Frühlings“ in der Region 2011 gelernt und auf Gewalt konsequent verzichtet. Angesichts der Friedfertigkeit konnte das Regime nicht mit roher Gewalt einschreiten oder die Bewegung diskreditieren. Da sich das Regime hartnäckig an die Macht klammerte, bewegte sich das Land Anfang 2020 auf eine Sackgasse zu.
Leere Versprechen und wertlose Freiheitsrechte
Als Ausweg warben der im Dezember in einem von Manipulationsvorwürfen überschatteten Urnengang neu „gewählte“ Staatspräsident Abdelmadjid Tebboune und der im Hintergrund die Fäden ziehende mächtige Armeechef Saïd Chengriha gebetsmühlenartig für das Verfassungsreferendum. Dieses sei eine „wichtige Etappe“ für den Aufbau eines „neuen Algeriens“, erklärte Chengriha im Vorfeld der Abstimmung mehrfach. Die Staatsführung versuchte, die Verfassungsänderung als Zugeständnis an Hirak und Opposition zu verkaufen. Doch wirkliche Reformen werden durch die Verfassungsrevision keineswegs eingeleitet.
Zwar beschränkt das neue Grundgesetz die Amtszeiten des Staatschefs auf zwei Mandate und stärkt die Rolle des Parlaments. Aber der Präsident darf nach wie vor hochrangige Richterposten in Eigenregie besetzen und behält damit einen beachtlichen Einfluss auf die Justiz. Auch Freiheitsrechte sowie ein Verbot von Zensur sind in der neuen Verfassung festgehalten. Doch sie sind das Papier, auf dem sie geschrieben sind, nicht wert, wie das Regime im Vorfeld der Abstimmung bewies. Es ließ weiterhin systematisch Aktivisten, Oppositionelle und Journalisten aus politischen Gründen verhaften und vor Gericht zerren.
Das linksliberale Oppositionsbündnis „Pakt der demokratischen Alternative“ bezeichnete die jüngste Repressionswelle gegen Oppositionelle derweil in einer Erklärung als „Kreuzzug des Regimes gegen Freiheiten“. Versicherungen der Regierung, Menschen- und Freiheitsrechte künftig achten zu wollen, sind daher unglaubwürdig.
Neustart mit neuer Initiative
Vor dem Referendum und der Corona-Krise war der Hirak meilenweit von seiner beeindruckenden Stärke von früher entfernt. Doch nun wendet sich das Blatt. Das Regime hatte die Pandemie als Vorwand genutzt, zunehmend repressiv gegen den Hirak vorzugehen. Dies und der Widerstand gegen das Referendum brachte der Bewegung neuen Zulauf.
Der Hirak will in den kommenden Wochen weitere Schlagkraft entwickeln. Er lancierte mit „Nida22“ eine neue Initiative mit dem Ziel, die verschiedenen, in der Bewegung aktiven ideologischen Strömungen und politischen Lager endlich an einen Tisch zu bekommen, um das Regime mit einer breiten Allianz wirkungsvoller als bisher unter Druck setzen zu können.
Will die Staatsführung die politische Krise beenden, muss sie den Protestierenden mehr anbieten als nur kosmetische Reformen. Doch ohne eine neuerliche Massenmobilisierung des Hirak auf Algeriens Straßen wird das Regime wohl nicht einlenken.
Sofian Philip Naceur