Wie wählen Menschen mit Migrationshintergrund?

Deutschland Menschen mit Migrationshintergrund; Foto: Eventpress Stauffenberg/picture-alliance
Deutschland Menschen mit Migrationshintergrund; Foto: Eventpress Stauffenberg/picture-alliance

Bei der Bundestagswahl am 26. September dürfen auch rund 7,4 Millionen Menschen mit internationaler Biografie und deutschem Pass einen neuen Bundestag wählen. Doch was ist über diese von den Parteien oft vergessene Wählergruppe überhaupt bekannt? Ein Bericht von Kay-Alexander Scholz

Von Kay-Alexander Scholz

Wenn in weniger als zwei Wochen in Deutschland ein neuer Bundestag gewählt wird, macht sich auch eine Gruppe auf den Weg an die Wahlurne, die von Politikern, Politikerinnen und Parteien häufig übersehen wird: 7,4 Millionen Wahlberechtigte mit Wurzeln beispielsweise in der Türkei, Syrien oder Russland. Das sind zwölf Prozent aller Wahlberechtigten.

Obwohl das eine stolze Zahl ist, werde diese Wählergruppe selten direkt angesprochen, hat Sozialwissenschaftlerin Sabrina Mayer beobachtet. Sie arbeitet zurzeit an einer Studie über Menschen mit Migrationshintergrund in Duisburg, einer multikulturellen Stadt in Nordrhein-Westfalen. Dabei fahre sie viel in der Stadt umher, erzählt sie, und sei doch etwas verwundert, "dass in einer solchen Stadt Menschen mit Migrationshintergrund auf Wahlplakaten so selten direkt mit Themen adressiert werden".

Das könnte ein Grund für die niedrigere Wahlbeteiligung unter Menschen mit internationaler Geschichte sein. Sie lag bei der letzten Bundestagswahl 2017 rund 20 Prozentpunkte unter dem Durchschnitt. Das sei zwar international gesehen nicht ungewöhnlich, so Mayer, aber auch Anlass genauer hinzugucken. Denn es drohe ein Teufelskreis: "Wenn eine Gruppe sich nicht angesprochen fühlt, dann geht sie seltener zur Wahl, und so sinkt der Anreiz für die Parteien, die Themen aufzugreifen, weshalb die Wahlbeteiligung weiter sinkt."



Zur Wahl motivieren

Ein Problem, das der Aktivist Ali Can bestens kennt. Der Initiator des Twitter-Hashtags #MeTwo, der auf Diskriminierung aufmerksam machen will, wurde in der Türkei geboren, ist kurdischstämmig, seine Familie flüchtete 1995 nach Deutschland. Auch Can kämpft für eine höhere Wahlbeteiligung unter Menschen mit Migrationsgeschichte.

Zur Bundestagswahl hat er unter anderem eine mehrsprachige Wahlhilfe-App - vergleichbar dem populären "Wahl-O-Mat" - auf den Weg gebracht. "Im 21. Jahrhundert sollte eine Wahlhilfe barrierefrei sein", sagte er der Deutschen Welle. Kritisch sieht er aber, dass migrantische Gruppen erneut vor der Wahl selbst aktiv werden müssen: "Man hat versäumt, Menschen mit Migrationshintergrund das Gefühl zu geben, dass sie genauso zu Deutschland gehören." Es müsse aber auch darum gehen, die Menschen emotional abzuholen. "Letztlich wollen wir ja alle eine höhere Wahlbeteiligung."

Der Aktivist Ali Can (Foto: privat)
Ali Can kämpft für eine höhere Wahlbeteiligung von Menschen mit Migrationsgeschichte. Der Aktivist und Initiator des Twitter-Hashtags #MeTwo, der auf Diskriminierung aufmerksam machen will, hat zur Bundestagswahl unter anderem eine mehrsprachige Wahlhilfe-App - vergleichbar dem populären "Wahl-O-Mat" - auf den Weg gebracht. Er sieht es kritisch, dass erneut migrantische Gruppen selbst aktiv werden müssen: "Man hat versäumt, Menschen mit Migrationshintergrund das Gefühl zu geben, dass sie genauso zu Deutschland gehören."

Nur wenige wissenschaftliche Daten

Hinzu kommt eine unzureichende Datenlage. Es gibt nur wenig Wissen darüber, welche migrantischen Gruppen warum welche Partei wählen. Die Gründe sind auch statistischer Natur: In klassischen Wahl-Analysen sind die Fallzahlen der Stichproben meist zu gering für belastbare Aussagen. Ein Ausweg sind extra angelegte Studien, die aber Geld kosten und dann oft auch nur die größten migrantischen Gruppen umfassen.

Die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) hat zwei solcher Studien durchgeführt, im Jahr 2015 und 2019. Im Fokus stehen die drei größten migrantischen Gruppen in Deutschland. Das sind Menschen mit türkischem (2,8 Millionen), russischem (1,4 Millionen) und polnischem (2,2 Millionen) Migrationshintergrund.

In zwei Gruppen sei das Ergebnis über lange Zeit relativ konstant geblieben, heißt es in einer der Studien: "Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler aus Russland votierten überdurchschnittlich häufig für die Unionsparteien, Türkischstämmige für die Sozialdemokraten." Seit ein paar Jahren aber würden "feste Muster" nachlassen, stattdessen gebe es eine "hohe parteipolitische Mobilität". Die Studien zeigen: Viele russischstämmige Wahlberechtigte wanderten von der CDU/CSU ab zur AfD, die Türkischstämmigen hielten der SPD nicht länger die Treue, sondern wählten stattdessen häufiger CDU/CSU. Bei aus Polen stammenden Wählern profitierten die Grünen von der Wählerwanderung.



Wechselwähler sind ein gutes Zeichen

Diese neue Mobilität an der Wahlurne sei positiv zu bewerten, sagen die Forscher der KAS, nämlich als ein "Normalisierungsprozess". Schließlich sei die Mobilität bei Wahlen ganz generell, also auch in der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund, größer geworden. Das sieht auch Mayer so: "Parteibindungen nehmen ab, viel mehr wird nach Themen entschieden und geschaut, was einen anspricht, statt pauschal eine Partei zu wählen, die schon immer mit der eigenen Gruppe in Verbindung gebracht wurde."

Ein Wahlplakat der Linbken in arabischer Sprache in Berlin (Foto: Elliot)
Die Linke bleibt eine Ausnahme. Wähler mit Migrationsgeschichte würden selten direkt angesprochen, hat die Sozialwissenschaftlerin Sabrina Mayer beobachtet. Sie arbeitet zurzeit an einer Studie über Menschen mit Migrationshintergrund in Duisburg, einer multikulturellen Stadt in Nordrhein-Westfalen. Dabei fahre sie viel in der Stadt umher, erzählt sie, und sei doch etwas verwundert, "dass in einer solchen Stadt Menschen mit Migrationshintergrund auf Wahlplakaten so selten direkt mit Themen adressiert werden".

Doch die Parteien scheinen diese Chance nicht wahrnehmen zu wollen. "Für Parteien stellen Menschen mit Migrationshintergrund ein erhebliches Wähler-Potential dar", sagt die Organisation "Citizens For Europe". Allerdings unter der Voraussetzung, "dass sie ihr personelles Angebot und ihre programmatische Ausrichtung an das diverser werdende Elektorat anpassen".

Ein Blick in die Wahlprogramme zeigt ein anderes Bild: "Bei allen Parteien geht es bei Migrationsthemen vor allem um den Bereich 'Flucht und Asyl'," kritisiert der Mediendienst Integration, eine Informations-Plattform zu den Themen Flucht, Migration und Diskriminierung. "Arbeits- oder Bildungsmigration, die den größten Teil ausmachen, sind vergleichsweise selten Thema."

Ohne deutschen Pass keine Mitbestimmung

Und dabei ist eine Gruppe noch gar nicht berücksichtigt, die fast genauso groß ist wie die der Wahlberechtigten mit internationaler Geschichte: Jene mit Migrationshintergrund, die in Deutschland leben, aber hier nicht wählen dürfen, weil sie keinen deutschen Pass haben. Das sind 8,7 Millionen Menschen. Betroffen sind auch viele nach Deutschland Geflüchtete. Ahmad Mobaiyed wurde in Syrien geboren und kam 2015 nach Deutschland. "Es ist einfach frustrierend, nicht wählen, nicht mitbestimmen zu dürfen," sagt er der Deutschen Welle. Selbst bei Themen nicht, die ihn als Flüchtling direkt angingen.

International gesehen bildet Deutschland keine Ausnahme mit der Regelung, dass nur Menschen mit einem deutschen Pass wählen dürfen. Es gibt nur eine Handvoll Staaten, in denen das Wahlrecht nicht an die jeweilige Staatsbürgerschaft gebunden ist. Trotzdem fordern mehrere Initiative ein Umdenken.

Unabhängig davon würden aber auch immer mehr Syrer und Syrerinnen eingebürgert werden, sagt Mobaiyed. Diese dürften dann auch wählen. Mobaiyed glaubt aber nicht, "dass es Bemühungen gibt, um zu verstehen, was die Syrer bei den bevorstehenden Wahlen brauchen, wollen und sich wünschen". Dabei wäre jede Art von Anerkennung der Rechte dieser Menschen, gehört zu werden und aktiv an der Entscheidungsfindung teilzunehmen, von großem Nutzen. "Denn ausgegrenzt zu werden", sagt Mobaiyed "tut weh und kann diese Personen auf negative Weise von der Politik wegdrängen."

Dem entgegenwirken könnten beispielsweise Vorbilder, Politiker und Politikerinnen mit internationalem Hintergrund. Dafür hat Mobaiyed "Dein Almanya" initiiert, eine Datenbank mit "progressiven Kandidaten", wie er sagt, "mit denen sich junge Deutsche mit Migrationshintergrund identifizieren können." Diese sind aber bisher noch selten im Bundestag vertreten: Von den 709 aktuell im Bundestag sitzenden Parlamentariern und Parlamentarierinnen haben aktuell nur 58 eine Migrationsgeschichte.

Kay-Alexander Scholz

© Deutsche Welle 2021