Das Wunderkind aus dem Ghetto
Es ist das erfolgreichste Debüt in der Geschichte der dänischen Literatur. Seit seinem Erscheinen im Herbst 2013 hat sich der Gedichtband von Yahya Hassan in Dänemark aus dem Stand heraus über 100 000 Mal verkauft. In einem Land mit wenig mehr als fünf Millionen Einwohnern, in dem von Lyrikbänden zum Start üblicherweise 400 Exemplare gedruckt werden und 3000 verkaufte Romane bereits einen Bestseller bedeuten, ist das schlicht sensationell.
Noch ungewöhnlicher: der Autor Yahya Hassan ist gerade einmal 18 Jahre alt und wuchs als Sohn palästinensischer Flüchtlinge in der Hafenstadt Aarhus auf – genauer gesagt im Neubauviertel Gellerup, das nicht gerade als Wiege für aufstrebende Dichter bekannt ist, sondern als Problemviertel berüchtigt.
Die Trabantenstadt am Rande von Dänemarks zweitgrößter Metropole ist ein Einwanderer-Ghetto, wie es im Buche steht: Die meisten Bewohner hat es aus Palästina, der Türkei, Somalia und dem Irak nach Gellerup verschlagen, das Viertel ist von Armut, Arbeitslosigkeit und Kriminalität geprägt.
„Wir hatten keinen Plan“
Auch Yahya Hassan kiffte und stahl, stand wegen kleinerer Delikte vor Gericht und verbrachte einen großen Teil seiner Jugend in Besserungsanstalten und Heimen, bevor er über Nacht zum Literatur-Star aufstieg. Wann und wie er mit dem Schreiben begonnen hat, ist unklar. Eine Lehrerin, mit der er eine Affäre hatte, soll ihn gefördert haben. In seinem Gedicht „Kontaktperson“ spielt er darauf an, und die Frau hat inzwischen in Dänemark einen Roman über ihre Beziehung geschrieben.
Aber als der junge Autor bei der Leipziger Buchmesse im Frühjahr mit Sonnenbrille und Sakko, die lange Mähne zum Pferdeschwanz gezähmt, die deutsche Übersetzung seiner Gedichte vorstellte, betonte er in Interviews, dass er schon im Alter von 13 Jahren an Rap-Workshops teilgenommen und erste Texte geschrieben habe. Das Genre sei ihm aber rasch zu oberflächlich und zu klischeehaft geworden, und so habe er sich eben der Poesie zugewandt.
Meist kurz und prägnant wie japanische Haikus, manchmal auch von grimmigem Humor getränkt, erzählt Yahya Hassan in seinen in Großbuchstaben gemeißelten Versen von religiöser Bigotterie, Kleinkriminalität und Fatalismus im Einwanderer-Ghetto: Da ist der Vater, der nach außen Frömmigkeit lebt, aber seine Kinder schlägt, die Mutter, die sich vor ihm weg duckt, und da sind die jugendlichen „Gellerup-Kanaken“, wie er sie nennt, die mit Drogen und Gestohlenem handeln und den dänischen Wohlfahrtsstaat verachten.
Manchmal ahmt Yahya Hassan den Slang der Einwanderer nach, benutzt gebrochenes Dänisch oder verwendet die drastische Sprache der Straße, voller Kraftausdrücke und Obszönitäten. Seine Gedichte heißen „Einbruch“, Totschläger“ oder „Das siebente Heim“, manchmal auch „Opferfest“ oder „Ghetto-Guide“.
„Meine Tante glaubt an die Verwandtschaft / aber ihr Mann glaubt ans Casino / Und der Rest der Männer glaubt an Geld in der Hand“, lautet eine prägnante Zeile über seine Familie, manche Sätze taugen zum Aphorismus: "Wir hatten keinen Plan, denn Allah hatte Pläne für uns".
Dichte Sprache
Yahya Hassan vermag es, kleine Geschichten oder Episoden zu wenigen Versen zu verdichten. Seine Gedichte sind stark autobiografisch geprägt, es haftet ihnen viel von der Intensität von Spoken-Word-Poetry an, und mit der Wucht von wütenden Rap-Salven und der Verzweiflung eines Stoßgebets trägt er sie vor. Manche Rezensenten fühlten sich durch seinen melodischen, rhythmischen Vortragsstil auch schon an einen Muezzin erinnert.
Besonders eindrücklich sind die Passagen, die von seinem Vater und dessen Erziehungsstil handeln. „Er sagte nicht Habibi / er sagte Hände oder Füße / und brach eine Latte aus dem Holzgestell“, heißt es in „Holzlatten“. Selten ist die kalte Logik häuslicher Gewalt eindrücklicher auf den Punkt gebracht worden. Doch die Gefühle des Sohnes bleiben ambivalent: „Vielleicht hätte ich dich geliebt / Wenn ich dein Vater wäre und nicht dein Sohn", räsoniert der Autor in seinem Gedicht „Vater ungeborener Sohn“, und an anderer Stelle spricht aus ihm der Wunsch, der Erzeuger möge „nicht nur ein Flüchtling mit Vollbart und Joggingkluft" sein, als der ihn die anderen Dänen sehen.
Töne vom Rande der Gesellschaft
Die Wut und die enorme Kraft dieses zornigen Aufschreis erinnern an Kanak Sprak, Feridun Zaimoglus 1995 erschienenem Debüt, in dem dieser Arbeitslose, Zuhälter, Rapper und Islamisten zu Wort kommen ließ und deren Wortlaut-Protokolle zu einer welschen Kunstsprache verfremdete. „24 Misstöne vom Rand der Gesellschaft" nannte er dies.
Hassans Beschreibung familiärer Abgründe lässt aber auch an "Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend" denken, jenes Buch, in dem der Journalist und Schriftsteller Andreas Altmann eine Jugend voller Misshandlungen, Demütigungen und Bigotterie in der deutschen Provinz, im bayrischen Wallfahrtsort Altötting der Nachkriegszeit, literarisch verarbeite.
Yahya Hassan selbst führt den russischen Schriftsteller Fjodor Dostojewski, das autobiografische Mammut-Romanwerk des Norwegers Karl Ove Knausgard und den dänischen Dichter Michael Srunge, der 1986 Selbstmord beging, als Einflüsse an – allesamt Schriftsteller, die sich den dunklen Seiten der menschlichen Psyche gewidmet haben.
Politische Vereinnahmung?
Doch Yahya Hassans Erfolg ist nicht allein auf die unbestreitbare literarische Qualität seines Erstlings zurück zu führen. Er ist nicht zu verstehen, ohne den Blick auf eine Einwanderungsdebatte zu richten, die fast nirgendwo in Europa in den letzten Jahren so hart geführt wurde wie in Dänemark.
Zehn Jahre lang, von 2001 bis 2011, hat die rechtspopulistische „Dänische Volkspartei“, die gegen Einwanderer und Muslime hetzt und sie zu einer Gefahr für die nationale Kultur stilisiert, hier eine konservative Minderheitenregierung gestützt und so eines der restriktivsten Zuwanderungsgesetze Europas durchgesetzt.
Die Spannungen eskalierten 2005 im Karikaturenstreit um die Mohammed-Karikaturen – einer ihrer Zeichner, Kurt Westergaard, der im Jahr 2010 knapp einem Anschlag entkam, stammt wie Yahya Hassan aus Aaarhus. Die fast schon hysterische Begeisterung, die dem dänisch-palästinensischen Jungautor in seiner Heimat entgegenschlägt, hat deshalb einen fragwürdigen Beigeschmack.
Zwar will Yahya Hassan zuallererst als Dichter verstanden und nicht politisch vereinnahmt werden. Doch sein Buch verspricht verschreckten Bildungsbürgern authentischen Ghetto-Grusel, und manche dürften sich dadurch in ihrem Vorurteil bestätigt fühlen: So sind sie, die muslimischen Migranten.
Der Verlag tut einiges dafür, um dieses Missverständnis zu befördern, indem er Yahya Hassan als Tabubrecher feiert. Dessen erstes großes Interview in der Zeitung Politiken – der führenden, linksliberalen Tageszeitung Dänemarks –, mit dem er für großes Aufsehen sorgte, war ein Frontalangriff auf die erste Generation der Einwanderer.
"Wir, die die Schule abbrachen, die kriminell wurden und zu Pennern, sind nicht vom System verraten worden, sondern von unseren Eltern", sagte er da – womit er allen von schlechtem Gewissen geplagten Dänen, die an ihrem System zweifeln, eine Last von der Schulter nahm. Übersehen wird dabei, dass sich viele seiner Gedichte auch als Anklage an die dänischen Institutionen, ihre Heime und Sozialarbeiter lesen lassen.
Unbeliebte Aussagen
Yahya Hassan verachtet die Ausreden, die sich manche Migranten für das eigene Versagen zurechtlegen, und er lehnt radikale Islamisten wie Rechtsradikale gleichermaßen ab: „Zwei Spielarten von Extremisten, die die Gesellschaft als Geisel nehmen", nennt er sie, und damit hat er zweifellos recht. Doch im Fernsehen und in Zeitungsinterviews hat er sich auch zu pauschalisierenden Aussagen über dänische Muslime hinreißen lassen und das Vorurteil bedient, dass alle Einwanderer faul und gewalttätig sind und nur den Staat ausnehmen wollen.
Das hat ihn in manchen Kreisen zur Hassfigur gemacht: Seit er im vergangenen Jahr auf dem Bahnhof von Kopenhagen von einem Angreifer attackiert wurde und Morddrohungen erhielt, wird er auf Schritt und Tritt von Personenschützern begleitet.
Trotzdem wurde er, als er sich Anfang Juni 2014 zu einer Lesung im Westjordanland aufhielt, in Ramallah von Unbekannten überfallen, und bei der Eröffnung der neuen Zentralmoschee in Kopenhagen wurde er nur wenige Wochen später ausgebuht, auch der Eintritt wurde ihm verweigert. Ein Lokalpolitiker aus Aarhus, Mohamed Suleban, erstattete Anzeige gegen ihn, weil er seine Verallgemeinerungen über Viertel wie Gellerup für rassistisch hält.
All diese Umstände sollten aber nicht davon ablenken, dass es sich bei Yahya Hassan um ein großes Talent handelt. Und, das man nicht alle seine Sätze, die er in Interviews äußert, auf die Goldwaage legen sollte. Er ist ja auch erst 18, und seine Gedichte stehen für sich.
Daniel Bax
© Qantara.de 2014
Yahya Hassan: Gedichte (Ullstein). Übersetzung: Annette Hellmut und Michel Schleh. 176 Seiten, 16 Euro
Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de