Deutung einer Parole

Tausendfach skandiert, doch hochumstritten: pro-palästinensische Parole "From the river to the sea" auf einer Demonstration in London.
Tausendfach skandiert, doch hochumstritten: Die pro-palästinensische Parole "From the river to the sea" (hier auf einer Demonstration in London) ist in Deutschland seit November 2023 verboten. (Foto: Vuk Valcic/ZUMA Press Wire/dpa/picture alliance)

Das Verständnis, der Slogan sei pauschal antisemitisch, greift zu kurz. Aber seine extremistische Auslegung sollte sanktioniert werden – allerdings auf israelischer wie palästinensischer Seite.

Kommentar von Kristin Helberg

Im November 2023 hat das Bundesinnenministerium im Zuge des Hamas-Verbots auch den Halbsatz "From the river to the sea" in Deutschland als Hamas-Kennzeichen definiert und verboten. Wer einen Anspruch auf das gesamte Gebiet zwischen Jordan und Mittelmeer erhebe, stelle automatisch das Existenzrecht Israels infrage und argumentiere folglich antisemitisch, so die Begründung. Eigentlich stammt der Satz aus den 1960er Jahren und ist somit älter als die Hamas. Doch nachdem Demonstranten die Gräueltaten des 7. Oktober mit dem Slogan "From the river to the sea, Palestine will be free" ("Vom Fluss bis zum Meer wird Palästina frei sein") feierten, wurde er fortan als Hetzparole gegen Juden verstanden. 

Dieses Verständnis greift jedoch zu kurz. Denn die große Mehrheit der Menschen fordert mit diesem Spruch ein Palästina frei von Besatzung und Unterdrückung und formuliert damit ein legitimes Anliegen. Die entscheidende Frage ist also, wer den Satz ruft, in welchem Kontext dies geschieht und welche Vorstellungen von Palästina sich damit verbinden. 

Neben der gewaltverherrlichenden Hamas-Variante gibt es zwei weitere Interpretationen. Entweder geht es um ein Ende der Besatzung in den seit 1967 besetzten Gebieten und die Errichtung eines palästinensischen Staates neben Israel. Oder das Ziel ist eine Ein-Staat-Lösung, die alle Bewohner rechtlich gleichstellt. Angesichts von sieben Millionen Juden und sieben Millionen Nicht-Juden in dem Gebiet könnte dies Israel mittelfristig von einem jüdischen Staat zu einem Staat für alle Bürger machen. In keinem der beiden Fälle spricht sich die Person für eine Vertreibung oder gar Vernichtung von Juden aus.  

Auf pro-palästinensischen Demonstrationen (wie hier in Washington D.C.) ist der Slogan häufig zu hören.
Bei pro-palästinensischen Demonstrationen in den USA (wie hier in Washington D.C.) ist der Slogan "From the river to the sea" häufig zu hören. (Foto: Elizabeth Frantz/REUTERS)

Unterschiedliche Einschätzungen der Gerichte

Um dies zu verdeutlichen, haben Aktivisten den zweiten Teil der Parole angepasst. Statt "Palestine will be free" formulieren sie "we demand equality" ("wir fordern Gleichberechtigung") oder "everyone must be free" ("alle müssen frei sein"). Doch auch solche Plakate werden in Deutschland von der Polizei entfernt.

Ob der Ruf nach Gleichberechtigung und Freiheit aller als antisemitisch einzustufen ist, klären nun deutsche Gerichte und kommen dabei zu unterschiedlichen Einschätzungen. Der Hessische Verwaltungsgerichtshof sieht die Strafbarkeit des Halbsatzes als "äußerst zweifelhaft" an und entschied, dass der Slogan "From the river to the sea – Palestine will be free! Für ein freies Palästina für ALLE Menschen!“ auf Demonstrationen nicht untersagt werden darf. 

Dagegen bestätigte der Verwaltungsgerichtshof in Baden-Württemberg die Entscheidung der Stadt Freiburg, die die Parole in Wort und Schrift bei einer Kundgebung verboten hatte. 

Extremisten auf beiden Seiten

Problematisch wird der Umgang mit dem Halbsatz, wenn man ihn einseitig kriminalisiert. Die aktuelle israelische Regierung beansprucht das gesamte Gebiet westlich des Jordans – also from the river to the sea – für "Eretz Israel", Groß-Israel. Einzelne Minister sprechen den Palästinensern nicht nur das Recht auf Selbstbestimmung und staatliche Souveränität ab, sondern ihre Existenz als Volk insgesamt. 

Ministerpräsident Benjamin Netanjahu arbeitet seit Jahrzehnten ganz offen an der Verhinderung eines palästinensischen Staates, seine Likud Partei bekräftigte schon 1977, zehn Jahre vor Gründung der Hamas, in ihrem Programm, dass "zwischen dem Meer und dem Jordan" nur israelische Souveränität herrschen werde. 

Extremisten auf beiden Seiten verbinden also mit dem Halbsatz Ansprüche, die die Rechte des jeweils anderen Volkes missachten – die Bundesregierung sieht die Radikalen jedoch nur im pro-palästinensischen Lager. Kritische Juden in Deutschland dafür zu bestrafen, dass sie für alle Menschen zwischen Jordan und Mittelmeer Freiheit fordern, während man gleichzeitig eine rassistische israelische Regierung mit unverhohlenen Annexionsplänen unterstützt – mit Worten, Geld und Waffen – ist ein Irrweg. Und ein weiteres Beispiel für Deutschlands doppelte Standards im Nahostkonflikt. 

Kristin Helberg 

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