Von Omar Chayyām bis Maryam Mirzakhani

Die iranische Mathematikerin Maryam Mirzakhani spricht während einer Pressekonferenz nach der Verleihung der Fields-Medaille auf dem International Congress of Mathematicians in Seoul am 13. August 2014.
Die iranische Mathematikerin Maryam Mirzakhani spricht während einer Pressekonferenz nach der Verleihung der Fields-Medaille auf dem International Congress of Mathematicians in Seoul am 13. August 2014.

Omar Chayyām und Maryam Mirzakhani stehen als Mathematiker und Poeten für ein Bild von ihrer gemeinsamen Heimat Iran, das sich wohltuend von der anti-iranischen Stimmung und der Islamophobie des 21. Jahrhunderts abhebt. Von Hamid Dabashi

Essay von Hamid Dabashi

„Die iranische Mathematikerin Maryam Mirzakhani, die am 14. Juli 2017 im Alter von nur vierzig Jahren verstarb, galt unter ihren Kollegen als Virtuosin der Dynamik und Geometrie komplexer Flächen: 'Science-Fiction-Mathematik', so wie es ein Bewunderer nannte. Für ihre Tochter Anahita war sie eine Art Künstlerin.“ 

Diese Worte der Wissenschaftsjournalistin Siobhan Roberts im The New Yorker „Elements“-Blog fassen die Trauer um den Verlust eines klugen Kopfes zusammen, so wie ihn Millionen von Iranern weltweit und mit ihnen auch die Welt der Wissenschaft empfunden hat.  

Maryam Mirzakhani (1977-2017) war eine weltberühmte Mathematikerin. Sie war Professorin für Mathematik an der Stanford Universität in Kalifornien und die erste Frau, die Fields-Medaille erhalten hat: Sie gilt als Nobelpreis für Mathematik. Sie starb nach langer Krankheit an Krebs. Maryam Mirzakhani wurde im Iran geboren und erwarb 1999 an der Sharif Universität in Teheran ihren Bachelor in Mathematik.

Nach dem weiterführenden Studium an der Harvard Universität wurde sie 2004 promoviert. 2014 erhielt sie die Fields-Medaille als Auszeichnung für ihre „herausragenden Beiträge zu Geometrie und Dynamik Riemannscher Flächen und ihrer Modulräume“. Ihr Tod machte Familie, Freunde und Kollegen und auch viele ihrer Landsleute fassungslos. 





Das Bild einer Nation korrigieren

Viele Reaktionen auf den Tod von Mirzakhani folgten den üblichen Reflexen. Der iranische Präsident Hassan Rohani und der Präsident der Stanford Universität, Marc Tessier-Lavigne, erklärten beide ihr Beileid. Die iranischen Medien wetteiferten untereinander um die besten Lobeshymnen auf Mirzakhani. Iranische Oppositionelle in den Vereinigten Staaten und Europa nutzten und benutzten die Gelegenheit, um die Islamische Republik Iran wegen der Abwanderung talentierter Töchter und Söhne ins Ausland anzuprangern.

Maryam Mirzakhani verließ seinerzeit den Iran, um ihr Mathematikstudium in den Vereinigten Staaten fortzusetzen. Wäre sie vor tausend Jahren geboren worden, wäre sie wohl nach Bagdad gegangen. In ein paar Jahrzehnten gehen Talente wie sie vermutlich nach Peking.



Selbstverständlich ist die Abwanderung von Talenten ein gravierendes Problem im Iran wie auch anderswo. Bei Maryam Mirzakhani lagen die Dinge jedoch anders. Sie war mit einer überlegenen Intelligenz gesegnet und fuhr dorthin, wo sie die besten Bedingungen vorfand, um ihre Talente zu entfalten. Sie blieb Iranerin und wurde nicht darauf reduziert, nur „im Iran geboren“ zu sein.

Gleichzeitig passierte aber auch noch etwas anderes. Die weltweite Anerkennung und ihr früher tragischer Tod machen aus klugen Köpfen und großen Geistern wie Maryam Mirzakhani ein Symbol, ein Zeichen, ein Zitat – weit über das hinaus, was sie sind und was sie in ihrer beruflichen Bestimmung erreicht haben. Seit sie die renommierte Fields-Medaille erhalten hatte, trug Maryam Mirzakhani zu einem vielschichtigeren Bild ihres Heimatlandes in der westlichen Öffentlichkeit bei. Vor dem Hintergrund einer dauerhaften Dämonisierung des Iran durch verschiedene Formen der Scharfmacherei kamen durch ihren Ruhm Töne zur Geltung.Wider die Scharfmacher

Nationen müssen im westlichen Narrativ auf einen simplen Kern reduziert werden, wenn sie zum Ziel von Militärschlägen werden sollen. Afghanistan wurde auf Mullah Omar reduziert. Der Irak auf Saddam Hussein. Je differenzierter aber das Bild einer Nation ausfällt, desto schwieriger wird es für die Scharfmacher in Washington, Tel Aviv oder Riad, sie ins Visier ihrer Militärmaschinerie zu nehmen.

Gerade in der stillen Würde ihrer Arbeit und ihrer Zurückhaltung in der Öffentlichkeit ging von Maryam Mirzakhani trotz ihres krebsgeschwächten Körpers für viele Menschen eine Hoffnung aus. Sie war eine Iranerin, eine Muslimin, eine Frau aus bescheidenen bürgerlichen Verhältnissen, die mit ihrem kometenhaften Aufstieg ein großes Fragezeichen vor all das setzte, was gegen ihr Volk vorgebracht wurde.

Diejenigen, die davon reden, „das iranische Volk auszunehmen“, wenn sie den Iran dämonisieren, sollten sich anschauen, was Afghanistan, Irak, Syrien oder Libyen nach dieser Logik erlitten haben. Nicht die Regierungen sind die vorrangigen Opfer der Scharfmacherei: Es sind überall stets die einfachen Menschen.[embed:render:embedded:node:14440]

Zum Verdruss der Scharfmacher haben auch andere prominente Iraner zu einem vielschichtigen Bild des Landes beigetragen, insbesondere die Filmemacher, die das iranische Kino auf die Weltbühne gebracht haben. Ich erinnere mich lebhaft daran, wie eine weitere talentierte junge Iranerin, Samira Makhmalbaf, 1998 im Alter von 17 Jahren ihren Film „Apple“ auf den Filmfestspielen von Cannes zeigte. Mit ihrem Erfolg in jenem Jahr änderte sie das stereotype Bild vom Iran als eines zornigen, bärtigen Mannes in das Bild einer begabten jungen Frau.

Wohl kaum jemand hat in der Kunst mehr zu einer differenzierten Sichtweise Irans beigetragen als der 2016 verstorbene Filmemacher Abbas Kiarostami. Er war eine treibende Kraft hinter der globalen Aufmerksamkeit für iranische Kunst.

In der Kunst hat es inzwischen viele solcher Nuancierungen gegeben, weniger aber in der Wissenschaft. Mit Wissenschaft verbindet die Öffentlichkeit praktisch nur die iranischen Atomwissenschaftler, die regelmäßig das Ziel von Attentaten werden.

Mirzakhani war keine Atomphysikerin. Vielmehr war sie eine weltberühmte Mathematikerin. Ihre Leistungen sind von historischer Tragweite – vergleichbar mit den Leistungen anderer iranischer und muslimischer Wissenschaftler wie etwa Muhammad ibn Musa Chwārizmī, Muḥammad ibn Zakariyyā ar-Rāzī und vor allem Omar Chayyām (1048 - 1131), dem herausragenden Astronomen, Mathematiker und – Dichter.

Das mit Mirzakhani neu erweckte Interesse am historischen Erbe ihres Heimatlandes zeigt der Welt einen ganz anderen Iran. Und dies in einem US-amerikanischen Kontext, der dermaßen islamophob ist, dass sogar der persische Sufi-Mystiker Rumi so gelesen wird, als wäre er ein New-Age-Guru aus Kalifornien.Mirzakhani und Omar Chayyam

Der Vergleich von Mirzakhani mit Omar Chayyām erschöpft sich nicht allein darin, dass beide iranische Mathematiker waren.  Vielmehr hat Mirzakhani, ähnlich wie Chayyām, das Bild von ihrer gemeinsamen Heimat in der europäischen und jetzt auch in der amerikanischen Vorstellung wegweisend verändert.

Der Ruf von Omar Chayyām als Dichter übertrifft seinen Rang als Mathematiker bei weitem. Doch nur bei oberflächlicher Betrachtung lassen sich diese beiden Kategorien überhaupt unterscheiden. Die ganze Anmut von Chayyāms mathematischem Verstand, so scheint es, musste sozusagen in aufklärerisch-skeptische Verse übertragen werden, damit Normalsterbliche Zugang dazu fanden. Die Poesie Maryam Mirzakhanis dagegen ist und bleibt reine Mathematik.

Chayyāms Mathematik floss im Rahmen eines größeren ästhetischen Schaffens in seine Dichtung ein:

„Nur Puppen sind wir auf dem Schachbrett Welt,

Ein Spielzeug nur, geschoben und gestellt;

Und hat's das Schicksal satt,

Zum Kasten wandert, Stück zu Stück gesellt.“

Während sich Chayyām mit Vorliebe der poetischen Absurdität des Seins widmete, lebte Maryam Mirzakhani regelrecht in der poetischen Präzision ihrer Zahlen. „Ich überschreite gerne die imaginären Grenzen, die Menschen zwischen verschiedenen Bereichen errichten – das inspiriert mich“, sagte sie einmal: „Es gibt so viele Werkzeuge, ohne dass man wüsste, welches zum Ziel führt. Man muss optimistisch bleiben und versuchen, die Dinge miteinander zu verbinden.“ Mirzakhani überschritt imaginäre Grenzen in der Mathematik, so wie andere Dichter es mit Mysterium des Lebens als solchem machen.  

Statue des iranischen Poeten, Astrologen and Philosophen Omar Khayyam, geboren 1048 in Nizhapur / Iran, dort 1131 gestorben; Foto: ISNA
Der Vergleich von Mirzakhani mit Omar Chayyām erschöpft sich nicht allein darin, dass beide iranische Mathematiker waren. Vielmehr hat Mirzakhani, ähnlich wie Chayyām, das Bild von ihrer gemeinsamen Heimat Iran in der europäischen und jetzt auch in der amerikanischen Vorstellung wegweisend verändert.

Mathematikerin, Poetin und Malerin 

Bei anderer Gelegenheit räumte sie ein: „Das Schönste ist selbstverständlich der „Aha“-Moment. Die Aufregung, etwas entdeckt zu haben und die Freude, etwas Neues zu verstehen – das Gefühl, auf dem Gipfel eines Berges zu stehen und die klare Sicht zu genießen. Aber die meiste Zeit über ist Mathematik für mich wie eine lange Wanderung ohne festen Weg und ohne Ende vor Augen.“ So spricht  eine Mathematikerin mit der Seele einer Poetin. Die Personifizierung von Chayyām.  

Mirzakhanis mathematische Gleichungen waren ihre Poesie – eine Poesie, die nur wenige Glückliche zu lesen vermögen. Die übrige Welt schaut staunend auf die Schönheit dieser Poesie. Eine andere und verwandte Seele von Mirzakhani aus neuerer Zeit ist der indische Mathematiker Srinivasa Ramanujan (1887-1920), der ebenfalls tragisch jung im Alter von 32 Jahren starb. 

Eine berühmte Anekdote, die die rechnerischen Leistungen Ramanujans verdeutlicht, stammt von G. H. Hardy, einem Kollegen des jungen Mathematikers, der sie nach Ramanujans Tod erzählte. Hardy war auf dem Weg zu Ramanujan, als dieser bettlägerig war. Er hatte ein Taxi mit der Nummer 1729 bestiegen und dachte über diese Zahl nach. Bei der Ankunft bemerkte er gegenüber seinem Freund, dass dies eine nichtssagende Zahl sei, was hoffentlich auf kein ungünstiges Omen hinweise. Daraufhin widersprach Ramanujan entschieden: „Die Zahl ist sehr interessant. Dies ist die kleinste natürliche Zahl, die sich auf zwei unterschiedliche Weisen als Summe zweier Kubikzahlen darstellen lässt.“ Und zwar:  1729 = 13 + 12 3 = 93 +103.

Auch das ist reine Poesie. Denn was ist Poesie anderes als eine Wahrheit, die so offensichtlich schön ist, dass Sterbliche sie nicht erkennen können. Die strahlenden Augen der kleinen Tochter von Maryam Mirzakhani sahen, was der kluge Kopf ihrer Mutter mit mathematischer Präzision wusste: „Im Haus der Familie, in der Nähe der Stanford Universität “, so berichtet Siobhan Roberts in ihrem Essay über die iranische Mathematikerin, „verbrachte Mirzakhani Stunden auf dem Fußboden vor überdimensionierten Papierbögen, skizzierte Ideen, zeichnete Diagramme und Formeln, was die damals sechsjährige Anahita oft zu dem Ausruf veranlasste: „Oh, Mommy malt wieder!“ 

Auf dem Zenit ihres mathematischen Könnens hat uns Maryam Mirzakhani viel zu früh verlassen, als dass sich ihre ganze Bestimmung hätte entfalten können. Doch dank ihrer Tochter Anahita (benannt nach Avestan, der altpersischen Göttin der Fruchtbarkeit, Heilung und Weisheit) hinterließ sie eine Ahnung davon, was sie uns zu vermachen suchte. 

Hamid Dabashi

© Al-Jazeera 2021

Hamid Dabashi ist Inhaber des Hagop-Kevorkian-Lehrstuhls für Iranische Studien und Vergleichende Literaturwissenschaften an der Columbia Universität in New York, USA.