Die Magie der Lasen
Viele von uns kennen die Geschichte vom Goldenen Vlies. Schauplatz der antiken Sage war Kolchis, ein Gebiet in der heutigen Nordosttürkei und Westgeorgien. Dort siedeln heute noch die Nachfahren der Kolcher, die Lasen und ihre nördlichen Verwandten, die Megreler. Schon in frühen Quellen ist überliefert, die Lasen seien ein singendes und tanzendes Volk, was sich bis heute in ihren Volksliedern und dem Kreistanz Horon widerspiegelt. Jetzt tritt die lasische Musikkultur im Jazz in Erscheinung – und verantwortlich dafür ist eine junge Sängerin namens Ayça Miraç.
"Ich bin in Deutschland geboren und aufgewachsen, und meinen Eltern war es vor allem sehr wichtig, dass ich gut Deutsch lerne. Lasisch habe ich immer dann gehört, wenn meine Mutter bei ihren lasischen Verwandten und Freunden war. Durch meine Mutter und ihren lasischen Bekanntenkreis habe ich auch schon immer viel lasische Musik gehört. Es hat aber eine ganze Zeit gedauert, bis ich das auch in meine eigene Musik miteinfließen lassen konnte, was schon immer mein Herzenswunsch war."
Interkultureller Klangteppich
Lasisch gehört zu den kaukasischen Sprachen, und die Kultur der Minderheit wurde bis heute mündlich weitergegeben. Bis vor Kurzem gab es nicht einmal ein eigenes Alphabet. Vieles ist durch Jahrhunderte andauernde Unterdrückung verloren gegangen, doch die traditionell oft mehrstimmigen Melodien haben als Träger des Erbes überlebt, das immer auch in wechselseitigem Einfluss mit dem griechischen, persischen und türkischen Kulturraum in Kontakt stand.
Ayça Miraç kann allerdings noch auf andere musikalische Nährstoffe zurückgreifen. Während die Mutter sich im europäischen Kulturverein Lazebura für die Erhaltung der bedrohten Sprache und Kultur der Lasen einsetzt, widmet sich ihr Vater der türkischen Wortkunst. Er ist der Poet Yaşar Miraç, seine Gedichte werden gerne von befreundeten türkischen Musikern vertont.
Die sommerlichen Aufenthalte am Bosporus werden prägend für Ayça, genau wie die Pianosessions mit dem Vater. "Als ich klein war, hat er immer auf unserem Klavier improvisiert und meinem Bruder und mir sehr frei Geschichten erzählt. Für mich war das spontane Entwickeln von Rhythmen und Klängen also schon immer etwas ganz Natürliches."
Keine Angst vor dem eigenen Potenzial
Als Ayça Miraç ihr Jazzstudium in den Niederlanden beginnt, verfügt sie schon über einen breiten musikalischen Hintergrund von Pop und R&B über ihr kaukasisches und türkisches Erbe bis zur Klassik. Jetzt geht es darum, ihre eigene Stimme zu formen. Während eines Stipendiums in den Staaten nimmt sie an einer Master Class der New York Voices teil, und sie trifft Wayne Shorter, der ihr einen Rat mit auf den Weg gibt: "Hab' keine Angst vor deinem eigenen Potenzial."
Dieses lotet Miraç zurück in Deutschland zunächst mit dem langjährigen Studiumskollegen, dem Bassisten Philipp Großendorf aus. Zu den beiden stoßen bald der brasilianische Pianist Henrique Gomide und der Drummer Marcus Rieck. Das Quartett geht an die Verwirklichung von Miraçs Vision – einer Verbindung von lasischen, türkischen und jazzigen Klängen.
"Es war nicht so einfach, weil sich die lasische Sprachmelodie nur begrenzt verändern lässt", erläutert sie. "Englisch ist da zum Beispiel flexibler. Es war auch eine Schwierigkeit, dass wir die alte Mehrstimmigkeit der Vorlage mit der Band irgendwie darstellen wollten, ohne sie nur einfach zu kopieren." Geigerin Daphne Oltheten, in Alter Musik geschult, sorgt für diese mehrstimmige Struktur, während Pianist Bernhard Schüler, der zweite Gast des Quartetts, für lyrischen Flow steht.
Orientalische Tanzrhythmen und intimer Jazz
Das Ergebnis kann man jetzt auf dem ersten Album von Ayça Miraç und ihrem Quartett anhören. "Lazjazz" hat die Gelsenkirchenerin ihr Debüt genannt, und es entführt in eine Welt zwischen archaischen Melodien, orientalischen Tanzrhythmen und intimem Jazz, der auch klassische Elemente miteinbezieht.
Da ist etwa das fast magisch tönende "E Asiye" gleich zum Auftakt, ein Lied über eine unglückliche Liebe. "Ich glaube, dass diese Wirkung mit dem hohen Alter des Liedes zusammenhängt", sagt Mira. "Bei heutigen Volksliedern kommt ja oft der Grundton des Liedes an erster oder zweiter Stelle, und bei 'E Asiye' ist das ganz anders. Man hat das Gefühl, dass die Melodie über dem Grundton schwebt und erst am Schluss wird sie mit ihm vereint."
Für die alten Griechen hatten die Kolcher immer etwas Mysteriöses an sich. Miraç ist der Überzeugung, dass etwas von dieser magischen Aura der Lasen und Megreler bis heute in ihrer Musik und Sprache lebendig geblieben ist. Man kann das etwa auch in dem zärtlichen und doch geheimnisvollen Wiegenlied "Vengaara" spüren.
Evergreen aus Üsküdar
Die Spanne auf "Lazjazz" reicht aber über den Kaukasus hinaus bis zu Miraçs Lieblingspianisten Bill Evans und einer Ballade aus der Música Popular Brasileira. Persönlich wird es mit einem Evergreen aus einem Istanbuler Stadtteil.
Für die Sängerin ruft "Üsküdar'a Giderken" Erinnerungen an die Sommer am Bosporus herauf – und der vielfach gehörte türkische Ohrwurm bekommt in der Version des Quartetts durch den Einschub einer sephardischen Melodie und eines Macualelê-Rhythmus aus Brasilien einen weltläufigen Touch.
Das beschwingteste Stück, und sicherlich auch das orientalischste, ist "Avlaskani Cuneli", eine der bekanntesten lasischen Melodien überhaupt. Ayça Miraç hat es dem 2005 verstorbenen Sänger Kazım Koyuncu gewidmet, denn seinen Hits hat sie viel von ihrer Begeisterung für die Musik der Lasen zu verdanken. Und hier wird diese so archaisch klingende Musik plötzlich brisant. "Es ist bemerkenswert", sagt Ayça Miraç, "dass hier zwischen den Zeilen Einiges über die auch heute noch aktuelle Thematik von Landflucht und Migration durchscheint."
Stefan Franzen
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