Fanal gegen das Vergessen

Vor 75 Jahren fand in der Provinz Tunceli der letzte große Kurden-Aufstand statt, der mit der gewaltsamen Niederschlagung und Deportation Tausender Dorfbewohner endete. Heute findet eine vorsichtige Aufarbeitung dieses düsteren Teils der türkischen Geschichte statt. Mahnmale sollen künftig an die Opfer des Massakers erinnern. Von Ekrem Eddy Güzeldere

Von Ekrem Güzeldere

"Sie haben vergessen, unsere Väter und Mütter umzubringen, deshalb sind wir noch da." Dilaver Eren sitzt im Restaurant des einzigen größeren Hotels in Tunceli (kurdisch Dersim) und wirkt dabei – angesichts der Schrecken, von denen er berichtet –, erstaunlich gelassen.

Er hat seine Familiengeschichte schon häufiger erzählt, Ende 2009 auch dem türkischen Premierminister Erdoğan in Ankara, als er eine Delegation aus Dersim anführte, die sich mit führenden AKP-Politikern traf. Zwei Jahre später, im November 2011 sprach Erdoğan dann bei einem Treffen der Vorsitzenden der AKP in den Provinzen detaillierter über die Ereignisse von 1937/38: "Wenn man sich im Namen des Staates entschuldigen muss, dann entschuldige ich mich hiermit."

Auch wenn es sich dabei um keine wirkliches Schuldeingeständnis handelte und Erdoğan diesen Schritt auch aus strategischen Kalkül gegen die größte Oppositionspartei CHP und ihren damals neuen Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu, der aus Dersim kommt, unternahm, so brach er mit seiner Aussage doch ein Tabu und setzte damit etwas in Bewegung.

Zerstörung und Verschleppung

Gegenüber von Dilaver Eren sitzt Kazım Arık, der 2009 auch in Ankara mit dabei war. Seine Familie kommt aus dem Dorf Cıvarık, wo eines der schlimmsten Massaker stattgefunden hat. Damals ging der Staat gegen die kurdisch-alevitische Bevölkerung vor, der er vorwarf, sich gegen den Staat aufzulehnen, keinen Wehrdienst zu leisten und keine Steuern zu zahlen.

Türkische Flagge mit Kemal Atatürk, Foto: AP
Umstrittener Volksheld: Für viele gilt Mustafa Kemal Atatürk als "Vater der Nation", doch der nationalistisch ausgerichtete Kemalismus gab den nicht-türkischen Minderheiten keinen Raum, sich unabhängig zu entfalten.

​​Im Vorfeld der Massaker, baute der Staat ab Mitte der 1930er Jahre die militärische Infrastruktur aus: "Meine Verwandten halfen sogar bei der Errichtung von Straßen und Kasernen, weil sie dachten, so kämen auch Schulen, Elektrizität und staatliche Einrichtungen in das Dorf."

Es kam anders. Nachdem die Infrastruktur stand, wurden "die Dorfbewohner ermordet, die Leichen mit Benzin übergossen und angezündet. Meine Eltern waren zu dieser Zeit zufällig nicht im Dorf und überlebten."

Studien zufolge sollen im Verlauf des Verbrechens zwischen 70.000 bis 100.000 Menschen ermordet worden sein, rund 10.000 wurden in die Westtürkei umgesiedelt. Auch wenn die Orte der Massaker weitgehend bekannt sind, gibt es keine Gräber, keine Stätten, an denen die Nachfahren gedenken können.

Mahnmale als Zeichen der Erinnerungskultur

Das soll sich jetzt ändern. Arık's Neffe, der in Istanbul lebende und hoch dekorierte Architekt Dara Kırmızıtoprak, beschreibt in seinem Büro im Istanbuler Geschäftsviertel Levent den Prozess:

"Nachdem Erdoğan sich entschuldigt hatte, dachten wir, dass es nun an der Zeit war, etwas Konkretes zu unternehmen. Eine Gruppe aus Dersim traf sich mehrmals und wir kamen auf die Idee, ein Mahnmal für die Opfer zu errichten. Die Gestaltung stammte von mir, die Finanzierung übernahm sofort ein Unternehmerehepaar, und Dilaver Eren war mit der Durchführung des Projektes vor Ort beauftragt. Die Idee war, Orte der Trauer und des Gedenkens zu schaffen, um die aufgestaute Wut in einen Prozess der Aufarbeitung der Vergangenheit umzuwandeln. Die eine Seite entschuldigt sich – die andere vergibt."

Kırmızıtoprak entwarf die Mahnmäler aus Naturbeton, die das Chaos der Massaker reflektieren sollten: "Große Stelen für Erwachsene, kleine für Kinder, aber auch Tiere wie Pferde sind Teil des Mahnmals, ein Friedhof, aber kein symmetrischer."

Der Funke sprang schnell über. Tekin Türkel, der Bürgermeister des 1.600-Seelen Dorfes Mazgirt, etwa 20km südlich von Tunceli entfernt, bemühte sich sofort darum, das erste Mahnmal in seinem Zuständigkeitsbereich aufstellen zu lassen. Als symbolischer Eröffnungstermin wurde der 17. November gewählt, um auch dem damaligen Anführer der lokalen Widerstandstandsgruppen, Seyid Riza, zu gedenken, der 1937 erhängt wurde.

Baustopp und ungewisse Zukunft

Bürgermeister Türkel aus Mazgirt, Foto: Ekrem Güzeldere
Licht ins Dunkel der türkischen Vergangenheit: Tekin Türkel, der Bürgermeister des Dorfes Mazgirt, ist um eine Aufarbeitung des Massakers der Jahre 1937/38 bemüht und will in seinem Dorf ein Mahnmal für die Opfer des Dersim-Aufstandes errichten lassen.

​​Im vergangenen September wurde oberhalb des Dorfes Mazgirt mit dem Bau begonnen. Auf einem Areal von knapp 6.000 Quadratmeter entstand ein großes Mahnmal. Einen guten Monat lief alles nach Plan. Als etwa 70 Prozent des Mahnmals fertig gestellt waren, wurde jedoch ein Baustopp verhängt. Bürgermeister Türkel macht dafür in erster Linie politische und nicht bürokratische Gründe verantwortlich.

Trotz des Baustopps fand am 17. November 2012 in Mazgirt eine Gedenkveranstaltung statt, an der auch die Bürgermeisterin von Tunceli Edibe Sahin, der BDP-Abgeordnete Demir Çelik und der Vorsitzende der alevitischen Föderation aus Ankara Ansprachen hielten. Trotz des Baustopps sind alle Beteiligten zuversichtlich, dass dieser schon bald wieder aufgehoben wird und das Mahnmal im kommenden Mai schließlich offiziell eingeweiht werden kann.

Doch das wäre nur der Anfang. Insgesamt sind rund 60 Mahnmale geplant. Laut Eren wird es einige Zeit dauern, bis man mit den anderen Mahnmalen beginnen kann, da "bei jedem Baugrund andere Eigentumsverhältnisse vorliegen, die zuerst geklärt werden müssen. Mal gehört es einem Ministerium, mal der Stadt, dann wieder einer Privatperson."

Einer der sich am intensivsten für die Aufarbeitung der Geschichte Dersims einsetzt, ist Cemal Taş, der seit den 1980er Jahren mit vielen Augenzeugen von damals gesprochen hat und ihre Geschichten auf Video aufgenommen oder protokolliert hat. Daraus sind inzwischen einige Bücher entstanden.

Eines trägt den Titel "Häuser aus Asche". Es schildert die Zerstörungen von Dörfern und die Vertreibung ihrer Bewohner – nicht etwa in den 1930er Jahren, sondern 60 Jahre später, als im Kampf gegen die PKK auch in der Provinz Tunceli viele Dörfer zerstört wurden und erneut Bewohner in die Westtürkei umgesiedelt wurden, manche von ihnen bereits zum zweiten Mal.

Ekrem Eddy Güzeldere

© Qantara.de 2013

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de