Enttäuschte Liebe
Der Roman spielt am Tag der lang ersehnten Einbürgerung: Die Vorfreude des Ich-Erzählers, Boubias Alter Ego, ist groß. Doch als er am selben Morgen in einem Heidelberger Café vom Brandanschlag von Solingen mit fünf türkischen Todesopfern liest, verfliegt seine Deutschlandliebe schlagartig.
Da ihm seine Einbürgerung nun wie ein "Pakt mit dem Teufel“ vorkommt, lässt er den Termin verstreichen und spaziert stattdessen durch die Heidelberger Altstadt. Dabei wechseln sich Gedanken an die Gegenwart, Erinnerungen an seine marokkanische Kindheit und alptraumartige Visionen ab.
Boubias Jugend in Marrakesch wird keineswegs verklärt. Zwar stammt er aus einer weltoffenen Berberfamilie, doch wird er in der Koranschule wegen seiner Linkshändigkeit drakonisch bestraft, was sich bis heute negativ auf sein Leben auswirkt. Auf Anregung des Vaters beginnt er in der Schule Deutsch zu lernen und entwickelt nach anfänglichen Misserfolgen geradezu ein "Deutschfieber“.
Er verbringt jede freie Minute damit, deutsche Vokabeln in die Schreibmaschine zu tippen. Als diese Tortur schließlich Früchte trägt (er schreibt die beste Deutscharbeit der Klasse), vollzieht sich ein Wandel: "Auf unermesslichen Hass folgt maßlose Liebe“.
Hegel und die Tiefgarage
Seine später folgenden Studienjahre im Heidelberg der 1960er Jahre sind geprägt von überschwänglichem Enthusiasmus und Glücksgefühlen, die auch von seiner Beziehung zu einer deutschen Studentin befeuert werden. Gemeinsam lassen sie die deutsche Romantik wieder aufleben, während sie die historischen Ursprungsstätten der Heidelberger Romantik aufsuchen.
Auch Boubias Sprache wird bei der Rückschau auf diese Zeit romantisch-schwärmerisch, wenn er etwa von "Liebestrunkenheit“ und "Liebesnest“ spricht. So sehr er jedoch Eichendorff, Goethe und Heine verehrt, so entschieden verurteilt er nach anfänglich naiver Rezeption Hegel als rassistisch und ausländerfeindlich und rät sogar, ihn von den Lehrplänen an den Universitäten zu streichen. Mit Genugtuung weist er darauf hin, dass Hegels ehemaliges Heidelberger Wohnhaus einer Tiefgarage weichen musste.
Andere Veränderungen der Stadtlandschaft in den 1970er Jahren, z.B. der Bau großer Einkaufscenter, Autobahnen und Schnellstraßen sowie der Neubau der Universität rufen bei ihm starke Abscheu hervor und rauben ihm die Reste seines "Gründungsmythos“ in Heidelberg.
Er stört sich am "Konsumwahn“ und spricht von einer "Einkaufshölle“; dabei schießt er bisweilen in der Schärfe seiner Verurteilung über das Ziel hinaus, wenn er sich zum Beispiel despektierlich und polemisch über asiatische Touristen äußert, die ihre Deutschlandbegeisterung in Fotos festhalten wollen. Angesichts einer vollbesetzten Bierfasskutsche entschlüpft es ihm, "diese Stadt (ist) nicht mehr mein Heidelberg.“
Alptraumartige Visionen
Der Erzähler gerät zunehmend in "Phantasmagorien“ und alptraumartige Visionen, steigert sich hinein in eine pauschale Darstellung Heidelbergs und Deutschlands als von Rechtsnationalen durchseucht. Er beschwört Szenen der Bücherverbrennung, hört das Grölen deutscher Burschenschaften mit ihren Heil-Hitler-Rufen, sieht das brennende Haus in Solingen vor seinem geistigen Auge, und wenig später in einer Moschee in Schwetzingen stellt er sich vor, wie er von Skinheads misshandelt wird.
Auch hier wird das polare, sich immer in Extremen bewegende Denken des Erzählers deutlich: Aus einer übersteigerten Liebe wird vernichtender Hass, wovor den Erzähler schließlich nur noch die romantisierende Rückbesinnung auf das Deutschland Goethes und Hölderlins rettet. Er dichtet Goethe eine Orientreise an, auf der ihn der Erzähler als Dolmetscher begleitet.
Im spätbarocken Schlosspark von Schwetzingen wird er in einem Tagtraum zum persönlichen Begleiter und 'Mundschenk‘ Goethes, den er als Schöpfer des "West-Östlichen Divan“ und als eifrigen Leser des Koran zum Vorbild für einen kulturversöhnenden Geist erklärt.
Diese augenzwinkernd erzählte Traum-Passage zeigt die ironische Haltung des Erzählers, der damit auch sich selbst in seinem antideutschen Furor zur Räson ruft: Er erkennt die "Gefahr“, die Welt nur "mit dieser dunklen Dienstagsbrille“ wahrzunehmen und kommt zu dem Schluss, "Deutschland lässt sich nicht auf Hoyerswerda, Rostock, Mölln und Solingen reduzieren, nicht einmal auf Auschwitz.“ Dennoch scheint er am Ende des Romans mit dem Gedanken zu spielen, wieder in den Maghreb zurückzukehren.
Der von starken Emotionen und Gegensätzen geprägte Roman ist sicher keine leichte Lektüre und reizt manchmal zum Widerspruch. Man hätte sich eine etwas differenziertere Darstellung des heutigen Deutschland und seiner verschiedenen Strömungen gewünscht. Zumal sich die deutsche Gesellschaft seit Entstehung der ersten Fassung des Textes in den späten 1990er Jahren gewandelt hat.
Dennoch sprüht der Roman auch vor originellen Einfällen wie den phantastischen Zeitreisen zu den Größen der Geistesgeschichte, die bitteren und abrechnenden Passagen werden immer wieder aufgehellt durch ironische Brechung und durch den starken Wunsch des Erzählers nach Versöhnung.
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