Glaube als stille Spiritualität

Zeitlebens setzte sich der deutsche Philosoph und Dichter Johann Gottfried Herder mit dem Orient und dem Islam auseinander und predigte ein Gesellschaftsbild der Humanität, der Toleranz und der individuellen spirituellen Glaubenspraxis. Von Melanie Christina Mohr

Von Melanie Christina Mohr

In ihren "Gedanken einer Orientalistin zu Johann Gottfried Herder" hatte die deutsche Islamwissenschaftlerin Annemarie Schimmel 1994 geschrieben: "Weder im Jemen noch im Iran, weder in Bengalen noch in Pakistan konnten die Hörer begreifen, wie ein Dichterpoet, der nie einen Araber, Perser oder Inder von Angesicht zu Angesicht erblickt hatte, sich so in Geist und Form fremder Völker einfühlen konnte (…)". Ein Satz, der die besondere Bedeutung Herders auch für die Gegenwart erahnen lässt.

Am 25. August 1744, als Johann Gottfried Herder geboren wurde, hatte die Philosophie der Aufklärung das Jahrhundert bereits in die Moderne katapultiert. Voltaire stand kurz vor seinem 50. Geburtstag, während Kant – der Herder später ein Lehrer sein wird - an der Königsberger Albertus-Universität unter anderem Philosophie, Physik und Mathematik studierte. Preußen stand der Siebenjährige Krieg, Amerika die Unabhängigkeit und Frankreich die Revolution bevor. Der islamische Kalender schrieb das Jahr 1157. Das Osmanische Reich hatte die geographische Ausdehnung seiner Macht erreicht und sollte noch bis in das erste Viertel des 20. Jahrhunderts existieren, während sich die Perser unter der kurzlebigen Herrschaft der Afschariden befanden, die wenige Jahre später durch die Zand-Dynastie ersetzt wurde.

Das europäische Islambild des 18. Jahrhundert war zwiespältig. Zwar erschienen 1694 und 1698 die ersten beiden Koranübersetzungen, aber das bis dahin etablierte Negativbild, welches sich nicht unwesentlich auf die konsequente Verleumdung der islamischen Glaubenslehre stütze, schien sich tief im christlichen Bewusstsein verankert zu haben und konnte durch mangelhafte Übersetzungen nur schleppend relativiert werden.

Der arabische Ruhm als ein "natürliches Wunder"

Zwar hatte Leibniz 1710 auf die offensichtlichen Übereinstimmungen christlicher und islamischer Glaubenssätze hingewiesen, aber Voltaire machte keinen Hehl aus seiner religiösen Abneigung und manifestierte seinen Missmut gegenüber dem Propheten in seiner Tragödie Mahomet, die den Glaubensstifter als Lügner und Heuchler darstellte. Es war aber auch das Jahrhundert, in welchem die europäische Orientalistik ihre ersten Anfänge feierte und sich langsam von der Theologie entfernte – wobei viele Reiseberichte dazu beitrugen, das "Fremde", den Orient, besser zu verstehen.

Herder-Denkmal in Riga; Foto: Wikipedia
Johann Gottfried Herder. Der deutsche Lyriker, Philosoph und Theologe Johann Gottfried Herder in einer zeitgenössischen Darstellung. Herder gilt als der große Anreger der deutschen Geistesgeschichte, dessen Schriften den "Sturm und Drang" einleiteten und prägten. Herder wurde am 25.8.1744 in Mohrungen geboren und starb 18.12.1803 in Weimar.

In seinem Klassiker Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit erörterte Herder im vierten und fünften Kapitel, was es für ihn zu jenem Zeitpunkt über die Araber und ihren Propheten zu sagen gab. Als ein "natürliches Wunder" sei der arabische Ruhm zu begreifen – nichts initiiert oder bewusst Geschaffenes – etwas, das nur darauf gewartet hatte, dass "der Mensch erschien", dem es möglich war, das arabische Volk "zur Blüte zu bringen".

Der Koran – ein Spiegel der Seele Mohammeds

Den Propheten – ein "sonderbares Wesen und eine Mischung all dessen, was Nation, Stamm, Zeit und Gegend gewähren konnte" – beschreibt Herder bewusst eigenständig ohne explizite göttliche Konnotation. "Sein Koran", hebt er hervor, "dies sonderbare Gemisch von Dichtkunst, Beredsamkeit, Unwissenheit, Klugheit und Anmaßung", sollte als ein Spiegel der Seele Mohammeds verstanden werden.

Herder personifiziert aber nicht nur den Inhalt, sondern auch dessen sprachliche Gestalt und wollte – ähnlich wie Goethe – den Propheten als Poeten verstanden wissen. Seinem eigenen protestantischen Glauben treu, den er – alle Toleranz in Ehren – als das wahre Bekenntnis deklarierte, unterstrich er mit dem "Selbstbetrug", dem er Mohammed und seiner Glaubensgemeinde attestiert.

Das bedeutete für Herder jedoch nicht, dem Islam und seinem Religionsstifter mit Unmut gegenüber getreten zu sein, im Gegenteil, in jeder fundierten Auseinandersetzung sei Platz für Kritik, sofern sie nicht den nötigen Respekt vermissen ließe. Einzig von der Sprache wollte sich Herder blenden lassen "die lange vor Mohammed" geblüht haben soll, und auf der sich der Stolz des ganzen Volkes und des Propheten aufbauen würde.

Neben dem Koran ist es das Märchen, das er preist und seinem Leser mit an die Hand geben möchte, weil es sich "unter dem morgenländischen Himmel (als) der fabelhafteste Teil der Dichtkunst" hervorgetan habe.

Toleranz und Besinnung als Glaubensmerkmale

Was Herder auszeichnet und ihn besonders in Zeiten rechtspopulistischer Grausamkeiten hervorhebt, ist sein ausgeprägtes Feingefühl und seine Wertschätzung gegenüber verschiedenen Lebensformen und Kulturen. Er war nicht nur ein überzeugter Missionarsgegner, der den Glauben als "innere Gewissenhaftigkeit" verstand – etwas, das unter keinen Umständen erzwungen oder forciert werden sollte –, sondern er machte auch keinen Hehl daraus, der Kirche mit Skepsis, ja sogar Ablehnung zu begegnen.

Für ihn verkörperte sie ein "politisches Bauwerk", eine Institution die man losgelöst von der religiösen Essenz zu betrachten hatte. Es kam also nicht von ungefähr, dass Herder das Fehlen eines muslimischen Papstes als lobenswert erachtete. Für ihn verkörperte der Glaube eine Art stille individuelle Spiritualität, die sich nicht durch einen bestimmten Dualismus auszeichnet, sondern in Toleranz und Besinnung manifestiert. In seiner Schrift "Die älteste Urkunde des Menschengeschlechts" (1774) interpretierte er die Heilige Schrift frei, um am Ende festzuhalten, dass sie "das älteste Stück der Morgenröte der Zeiten" sei und – seinem eigenen Glauben zum Trotz – dennoch eine von vielen ist.

Humanität und Menschenliebe

Die Humanität, mit der er sich intensiv beschäftigte, lag laut Herder "unentfaltet" im Individuum. Sie sei der Charakter des menschlichen Geschlechts, den er sich im Laufe der Zeit aneignet und fortentwickelt – was ihn am Ende vom Tier unterscheidet. Gerhardt Schmidt beschreibt den Herderschen Imperativ in einem Aufsatz zur Humanitätsidee treffend als eine "moralische Tautologie", die einen lächelnden Positivismus vertritt, und die demnach als Glückseligkeit zu verstehen ist, die man ohne Scheu zu Feiern in der Lage sein sollte.

In seinen Briefen zur Beförderung der Humanität bedauert Herder den fatalen Fehler einiger Zeitgenossen, den Begriff der Menschlichkeit mit "Niedrigkeit, Schwäche und falschem Mitleid" gleichzusetzen. Ja gar mit dem Blick der Verachtung und „einem Achselzucken“ würde man diesen Begriff gebrauchen. Vollsten Unverständnisses und Bedauerns fährt Herder fort: "Das schöne Wort Menschenliebe ist so trivial geworden (…), dabei sollte es das Ziel unseres Bestrebens sein".

Diese Empörung über die Abwertung von Menschlichkeit sollte zu Recht Einhalt geboten werden. Menschlichkeit und Humanität sind - wie Herder richtig festgehalten hat -, die "feinen Züge unseres Daseins" und als solche sollten sie bewahrt und beschützt werden.

Melanie Christina Mohr

© Qantara.de 2017