Drehscheibe zwischen Orient und Okzident
In diesem Jahr feierte das Morgenland Festival sein zehnjähriges Jubiläum. Ist das Festival eigentlich für Sie zum Vollzeitjob geworden?
Michael Dreyer: Jedes Festival ist äußerst aufwändig zu organisieren. Allein die Visa für die Musiker zu beschaffen, ist jedes Mal ein Riesenakt. Die Tatsache, dass der Bundesaußenminister unser Schirmherr ist, hilft da schon weiter. Einen Tag bevor in diesem Jahr die ersten Musiker zu den Proben eintrafen, mussten wir bereits die Förderanträge für das elfte Festival versenden. Das heißt praktisch, dass das Programm für das nächste Festival schon mehr als ein Jahr im Voraus feststehen muss. Gleichzeitig sind wir nach jedem Festival noch wochenlang mit den Abrechnungen beschäftigt. In den Anfangsjahren des Festivals kamen noch die vielen Reisen hinzu, auf denen ich mich in den Musikszenen des Orients umgehört habe – etwa nach Syrien, in den Irak, nach Aserbaidschan, in den Iran und nach China.
Sie sind selbst Konzertgitarrist und besitzen eine Plattenfirma. Wie entstand überhaupt die Idee zu diesem Festival?
Dreyer: Im Jahr 2002 bin ich nach Osnabrück gezogen. Meine damalige Freundin war im interreligiösen Dialog der Stadt sehr aktiv. So kam es, dass neben unserem Bett stets der Koran und die Bibel lagen. Ich habe mich lange gefragt, warum eigentlich bei unserer Berichterstattung über den Orient so wenig zivilgesellschaftliche Themen auftauchen.
Nehmen wir zum Beispiel die Musik. Unsere Musikwissenschaftler beschäftigen sich kaum mit der Region. Wer weiß schon, dass es Jazz in Syrien gibt? Die Stereotypen in unseren Medien werden andauernd reproduziert. Dazu eine Anekdote: Als ich einmal mit dem "Spiegel" im Iran war, wollte man unbedingt ein Bild von mir neben einer Frau im Tschador schießen. Das habe ich abgelehnt. Dennoch habe ich das Gefühl, dass sich das in den letzten Jahren schon etwas verbessert hat.
Das Morgenland Festival ist in Deutschland für seine Pionierprojekte bekannt geworden und hat sich auch international als feste Marke in der orientalischen Musikszene etabliert. Wie haben Sie das geschafft?
Dreyer: Was überzeugt, ist die Qualität unserer Musiker. Ein gutes Beispiel ist für mich der aserbaidschanische Sänger Ali Qasimov, der mehrmals auf dem Morgenland Festival aufgetreten ist – ein wahres musikalisches Jahrhundertphänomen. Über zehn Jahre hinweg haben wir ein enormes Archiv aufgebaut, das mittlerweile rund 100.000 Fotos und viele Stunden Ton- und Filmaufnahmen umfasst. Der YouTube-Kanal des Morgenland Festivals wird jeden Tag von etwa 3.000 Leuten genutzt. Insgesamt hatten wir bisher 2,5 Millionen Aufrufe. Viele der Nutzer kommen aus dem Orient. Ein Video von Aynur Dogan, einer unserer Stammgäste, hatte zum Beispiel innerhalb von zehn Stunden 3.000 Viewer. Daran lässt sich auch ablesen, wie gut die kurdische Community organisiert ist.
Gab es in den zehn Jahren Festival auch Herausforderungen, die Sie an den Rand der Verzweiflung gebracht haben?
Dreyer: Besonders kompliziert war der Auftritt mit dem Osnabrücker Symphonieorchester im Iran 2007. Dieses Hin und Her mit dem "Ershad" (dem iranischen Ministerium für Kultur und islamische Führung), ob wir nun auftreten durften oder nicht, war ein Horror. Wir mussten alle möglichen Strippen ziehen. Man kann das alles aber auch als ein spannendes Spiel sehen.
Das Morgenland Festival sieht sich nicht als politisches Festival. Aber wie gut lässt sich denn bei Ihrer Arbeit die Politik heraushalten?
Dreyer: Das geht natürlich nicht immer so leicht. Nach meinem Projekt mit dem Teheraner Symphonieorchester stand plötzlich eines Tages ein Gesandter der israelischen Botschaft mit seinen Bodyguards vor meinem Büro. Man wollte mit mir sprechen, da ich ja viel mit dem Iran arbeiten würde. Der Gesandte sagte mir, man müsse den Iran ganz isolieren, damit die Menschen sich gegen ihre Regierung auflehnen. Ich antwortete ihm, dass ich Musikproduzent sei und Festivals organisiere. Ich versuchte ihm dann zu erklären, dass junge Menschen in Teheran und Tel Aviv sich in vielen Dingen ähneln und eigentlich genau das gleiche wollen. Das wollten wir auf den Festivals auch immer zeigen. Wir haben zum Beispiel Jugendlichen aus Bagdad und Teheran Kameras in die Hand gegeben, damit sie ihren Alltag dokumentieren.
Wurden Sie bei Ihrer Planung nicht auch oft vom Weltgeschehen überrascht?
Dreyer: Als wir im Jahr 2008 die Erstaufführung der Johannespassion von Johann Sebastian Bach nach Teheran brachten, war Mir Hossein Mussawi Direktor des Konzerthauses, in dem unser Auftritt stattfand. Ein Jahr später, als wir zum ersten Mal den Film von der Aufführung zeigten, brachen in Teheran gerade die Proteste wegen der Präsidentenwahl aus. Da wusste ich, dass es erst mal keine weiteren Projekte mit dem Iran geben würde. Dann hatten wir einige Jahre lang einen Austausch mit einer Schule in Nazareth. Zweimal machte uns aber die Eskalation der Lage in Nahost einen Strich durch die Rechnung, sodass wir den Schüleraustausch letztendlich einstellen mussten.
Haben Sie unter den Ländern, mit denen Sie arbeiten, einen musikalischen Favoriten?
Dreyer: Der Iran ist natürlich fantastisch in jeder Hinsicht – eine große Kulturnation. Nachhaltig beeindruckt hat mich aber auch Aserbaidschan. Diese kleine schiitische Nation hat so eine starke musikalische Identität. Kaum woanders ist das klassische System des maqam und mugham so komplex ausgeprägt wie in Aserbaidschan. Es durchzieht alle Musikstile des Landes, von Klassik bis Jazz.
Ein musikalischer Höhepunkt war für mich das Jahr 2009, als wir hervorragende Sänger wie Ali Qasimov und Ibrahim Keivo zu Gast hatten. Da dachte ich: Jetzt könnte man eigentlich auch aufhören. Doch nun sind wir schon beim 10. Morgenlandfestival angelangt. Und in diesem Jahr war jeder Abend so bewegend, dass ich mir wünsche, dass es noch ein paar Jahre so weitergeht – auch wenn ich eigentlich mal ein Sabbatjahr nötig hätte...
Haben Sie das Gefühl, nach zehn Jahren Morgenland Festival Ihre Ziele erreicht zu haben?
Dreyer: Wir machen die Welt durch Musik natürlich nicht sofort besser. Ich bin auch eher allergisch gegen solche Phrasen wie das "Brückenbauen". Aber irgendwie ist es ja das, was wir versuchen. Wir haben in zehn Jahren viele Menschen erreicht und Neuland entdeckt. Das Morgenland Festival ist zu einem Zentrum für Musiker aus der Region geworden. Hier treffen sich Musiker aus Damaskus und Beirut, obwohl sie weniger als 100 Kilometer auseinanderleben. Alle Musiker schätzen die freundschaftliche Atmosphäre des Festivals. Wenn zum Beispiel Kinan Azmeh auf meinem Fahrrad durch Osnabrück fährt und Ali Qasimov zu mir über das Festival sagt "Hier bin ich zuhause" – dann habe ich das Gefühl, etwas erreicht zu haben.
Das Interview führte Marian Brehmer.
© Qantara.de 2014
Michael Dreyer gründete 2005 in Osnabrück das Morgenland Festival, das in zehn Jahren zu einem der renommiertesten Festivals für orientalische Musik in Europa avanciert ist. In seiner Geschichte hat das Morgenland Festival Chor- und Orchesterprojekte im Iran, im Irak, in Syrien, Jordanien und in der Türkei realisiert. Höhepunkte waren ein Gastspiel im irakischen Kurdistan 2013 und der erste Auftritt eines westlichen Symphonieorchesters im Iran nach der Islamischen Revolution im Jahr 2007. Die Schirmherrschaft für das 10. Morgenland Festival hat der deutsche Außenminister. Zahlreiche Musikproduktionen mit den Musikern des Festivals erschienen in der Reihe "Eastern Voices" von Dreyers Plattenlabel "Dreyer Gaido".