Keine Zwangshochzeit mehr nach Vergewaltigungen
Fast zwei Jahren hat sie für diese Entscheidung gekämpft. Trotzdem ist Houda Lamqaddam nicht ganz zum Feiern zumute. Am Mittwoch (22.01.2014) kippte das marokkanische Parlament ein höchst umstrittenes Gesetz: Es gewährte bislang einem Vergewaltiger Straffreiheit, wenn er sein minderjähriges Opfer nach der Tat heiratete. Ertragen musste dies - wie zahlreiche andere Frauen im Land - die 16-jährige Amina. Ihr Fall schockierte 2012 Marokko: Nur wenige Monate nach der Hochzeit mit dem Mann, der sie vergewaltigt hatte, tötete sie sich selbst. Ihre Familie und ein Richter hatten das Mädchen zur Heirat gedrängt, um die Ehre der Familie zu retten.
Legal war das durch den Artikel 475 des marokkanischen Strafgesetzbuches. Und "475LeFilm" hießen auch der Film samt Facebook-Kampagne von Lamqaddam und ihren Mitstreitern gegen das Gesetz und gegen sexuelle Gewalt. 2013 erhielten sie dafür den DW-Preis für Online-Aktivismus, The Bobs, in der Kategorie "Best Social Activism".
Der Kampf geht weiter
"Es ist eine gute Nachricht, dass der Paragraf 475 abgeschafft wurde", sagt die junge Frau. De facto ändere die Entscheidung des Parlaments aber nicht viel: "Für Frauen, die Opfer einer Vergewaltigung wurden, ist es noch immer sehr schwierig, Gerechtigkeit zu finden." Denn das Rechtssystem in Marokko sei sehr parteiisch, sagt Lamqaddam: "Es gibt den Männern, den Angreifern recht - unterstützt aber kaum die Frauen, die Opfer von Vergewaltigung und sexueller Gewalt wurden." Die Frauen hätten im Grunde niemanden, an den sie sich wenden könnten. Selbst die Familien beschuldigten häufig das Opfer.
Zwar ist die Gleichberechtigung von Mann und Frau seit 2011 in der marokkanischen Verfassung verankert - im Alltag angekommen ist sie noch nicht. Frauen müssen rein und jungfräulich sein, andernfalls werden sie verstoßen: "Beschmutzte" Frauen gelten als minderwertig, kein anderer Mann will sie mehr heiraten. Das ist die Mentalität in den traditionellen Teilen der marokkanischen Gesellschaft - und anderen Ländern, vor allem der arabischen Welt. Und das ist, wogegen Lamqaddam weiter kämpft.
Weil vergewaltigte Frauen stigmatisiert oder diskriminiert werden, weil sie die Ehre der Familie gefährden - deshalb trauten sich viele nicht, von der Vergewaltigung zu erzählen, sagt Liesl Gerntholtz, Direktorin für Frauenrechte bei der Organisation Human Rights Watch. "Und das ist die globale Herausforderung - nicht nur für Marokko: Wie gehen Gemeinschaften und Staaten mit Vergewaltigung um? Und wie verhindern sie Gewalt gegen Frauen?"
Die Polizei, die Familie - alle müssen sich ändern
"Man kann sich den tiefen psychologischen Schmerz und Schaden, der dadurch verursacht wird, kaum vorstellen", sagt Liesl Gerntholtz. Deshalb begrüßt sie Verbesserungen und Gesetzesänderungen wie die in Marokko als ersten Schritt. "Denn die Entscheidung erkennt nicht nur an, dass Vergewaltigung eine Straftat ist und der Täter bestraft gehört. Es erkennt auch die Verletzungen an, die entstehen, wenn das Opfer nach der Tat weiter damit konfrontiert wird."
Allerdings: Jetzt müsse das Gesetz auch adäquat umgesetzt werden. Das will auch Lamqaddam: "Das Gesetz muss gelebt werden - von der Polizei, von der Familie, von allen", sagt sie. Die Polizei müsse lernen, die Gesetze anzuwenden und durchzusetzen. Familien müssten lernen, auch ihre Mädchen zu schätzen und zu schützen. Gemeinschaften müssten den Opfern von Vergewaltigung und sexueller Gewalt Hilfe leisten mit psychologischer und medizinischer Betreuung, mit Unterkünften, in die sich die Frauen flüchten können. Und: Marokko brauche ein Gesetz, das Frauen auch tatsächlich schützt vor sexueller Gewalt, fordert Houda Lamqaddam.
Sie und Liesl Gerntholtz kennen sich nicht - und doch sind die zwei Frauen vereint in diesem Kampf: um Vergewaltigung zu verhindern oder zumindest die Folgen zu lindern. Damit das Leben mit dem Schmerz nicht auch noch ein Leben der Schande ist.
Monika Griebeler
© Deutsche Welle 2014
Redaktion: Helena Baers/DW