Ein Dialog darf nicht Assads Macht legitimieren
Herr Minister, viele Experten weisen darauf hin, dass die Linie zwischen Anhängern und Gegnern Assads innerhalb der Region entlang religiöser Linien verläuft. Die Türkei, Saudi-Arabien und andere sunnitische Staaten haben sich gegen den Verbleib Assads an der Macht ausgesprochen. Schiitische oder schiitisch dominierte Staaten wie Iran und Irak, aber auch die libanesische Hisbollah unterstützen hingegen Assad. Kann man angesichts dieser Umstände auch von einem religiösen Konflikt sprechen?
Ahmet Davutoğlu: Nein, auf keinen Fall. Es ist keine Auseinandersetzung zwischen Sunniten und Schiiten, sondern zwischen einem diktatorischen Regime und dessen Bevölkerung. In Ägypten und Libyen waren sunnitische Führer an der Macht, und die Türkei wendete sich auch gegen sie, als sie ihre Bevölkerung unterdrückten.
Das Hauptproblem in der Region ist nicht eines zwischen verschiedenen Religionsgruppen. Es ist ein Problem, das zwischen der Bevölkerung und den übrig gebliebenen Strukturen des Kalten Krieges in Form totalitärer, diktatorischer Regime besteht. Viele Aleviten, Christen und Drusen sind in der syrischen Opposition engagiert und kämpfen gegen das Regime. Es ist darum kein Krieg zwischen den einzelnen Religionsgruppen - und es wird auch keiner werden.
Allerdings will das Regime die Auseinandersetzung in einen Religionskrieg verwandeln. Denn auf diese Weise kann es verschiedene Gruppen auf seiner Seite halten. Es mag in der Region des Nahen Ostens einige religiöse Spannungen geben, die sehr schädlich sind. Aber die Türkei betrachtet dies nicht als einen religiösen Konflikt. Und es ist auch keiner.
Auf der Münchener Sicherheitskonferenz haben Sie sich zur Idee eines Dialogs zwischen der syrischen Opposition und der Regierung Assad kritisch geäußert. Welche Bedenken haben Sie?
Davutoğlu: Seit vielen Monaten, seit dem Jahr 2011, hat die Türkei, hat Kofi Annan und nach ihm Lakhdar Brahimi versucht, Baschar al-Assad zum Dialog zu bewegen. Doch Assad spricht der Opposition außerhalb Syriens die Legitimation ab. Er behauptet, es handele sich um Terroristen. Wird er also die "Nationalkoalition der Oppositions- und Revolutionskräfte" als neue Kraft auf dem politischen Feld anerkennen? Wenn er die Nationalkoalition oder die syrische Opposition nicht anerkennt, welchen Dialog sollte es dann geben? Es kann keinen Dialog geben, wenn Assad all diese Leuten zu Terroristen erklärt.
Käme es aber zu einem Dialog, muss man darauf achten, dass nicht der Eindruck entsteht, er legitimiere die Autorität Assads. Wenn die Regierung einen Dialog mit den Rebellen beginnt, wird dieses Bild Assads Macht legitimieren und ein irreführendes Bild entstehen lassen. Wer aber sollte dann für die 70.000 getöteten Syrer verantwortlich sein? Hunderttausende Syrer sind Flüchtlinge, und Millionen sind innerhalb Syriens vertrieben worden. Wer ist für all das verantwortlich?
Wenn es einen Dialog gibt, dann sollte er der Frage nach einer Übergangsregierung gewidmet sein. Es sollte außerdem klar sein, dass diese Regierung uneingeschränkte exekutive Macht besitzt - was bedeutet, dass Assad seine gesamte Macht an die neue Regierung übergeben sollte. Ist das nicht der Fall, wird ein Dialog nichts bringen. Wir sind nicht grundsätzlich gegen einen Dialog, aber dessen Inhalt sollte sehr genau definiert sein.
Ihr eigenes Land, die Türkei, hat in den vergangenen Jahren eine beeindruckende ökonomische Entwicklung vollzogen. Auch außenpolitisch macht sie immer stärker von sich reden. Wie sehen Sie die künftige Rolle der Türkei im Nahen Osten?
Davutoğlu: Wir selbst haben nie irgendeine Rolle in der Region gefordert. Aber in der Region wie auch international gilt die Entwicklung der Türkei als Erfolgsstory. Doch wie kam es zu dieser Erfolgsgeschichte? Sie beruht auf drei Faktoren: der Demokratie, der ökonomischen Entwicklung und einer aktiven Außenpolitik. Es handelt sich also um einen sehr umfassenden Ansatz. Ohne Reformen kann man weder die Mentalität, noch die Politik und die Wirtschaft verändern.
Darum unterstützen wir alle Reformversuche im Nahen Osten. Wir unterstützen die neu gewählten Regierungen in der Region. Wir ergreifen nicht Partei, indem wir die Akteure einzelnen Lagern zuordnen. Wer immer durch Wahlen an die Macht kommt, den betrachten wir als Partner, den wir unterstützen. Zuletzt gewährten wir Tunesien ein zinsgünstiges Darlehen von 500 Millionen Dollar. Ägypten gewährten wir eines von zwei Milliarden Dollar. Zudem haben wir bilaterale Treffen ausgerichtet.
Ob Gesundheitswesen, Kommunikation und Transport, Energiepolitik, Fragen der 'Good Governance' oder demokratische Reformen: Wir wollen unsere Erfahrungen weitergeben, um anderen Ländern zu helfen.
Im Mai 2010 stürmten israelische Sicherheitskräfte in internationalen Gewässern das Schiff "Mavi Marmara", das sich mit Hilfsgütern auf dem Weg nach Gaza befand. Dabei wurden neun türkische Zivilisten getötet. Daraufhin zog die Türkei ihren Botschafter aus Israel ab, die diplomatischen Beziehungen sanken auf einen Tiefpunkt. Wie steht es heute, fast drei Jahre später, um die türkisch-israelischen Beziehungen?
Davutoğlu: Wir haben in dieser Frage einen sehr klaren Standpunkt. Israel hat türkische Zivilisten in internationalen Gewässern getötet. Dafür ist Israel verantwortlich. Es handelt sich um ein Verbrechen. Wir haben wiederholt auf drei Bedingungen für eine Normalisierung der Beziehungen hingewiesen: Erstens muss sich Israel entschuldigen. Zweites muss es Entschädigung zahlen. Und drittens muss es uns erlauben, im Gazastreifen zu helfen. Wenn diese Bedingungen erfüllt werden, könnte es einen Weg zur Normalisierung der Beziehungen geben.
Wir betrachten es als nicht hinnehmbar, dass eine reguläre Armee unsere Zivilisten tötet und sich dafür nicht entschuldigt, als ob sie das Recht hätte, in internationalen Gewässern jedermann zu töten. Wir werden unsere Beziehungen solange nicht verbessern oder normalisieren, wie diese Bedingungen nicht erfüllt sind.
Inverview: Kersten Knipp
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de