Warum Al-Qaida heute stärker denn je ist
Herr Said, wenn man heute an die Terrororganisation Al-Qaida denkt, denkt man spätestens seit dem Tod ihres Anführers Osama bin Laden und dem Aufstieg des sogenannten Islamischen Staates eigentlich an eine Organisation der Vergangenheit. Warum haben Sie dem Thema dennoch ein ganzes Buch gewidmet?
Behnam T. Said: Tatsächlich konzentriert sich Al-Qaida im Moment nicht auf Europa oder die USA und ist dementsprechend nicht auf dem Radar unserer Öffentlichkeit. Im Nahen und Mittleren Osten, Teilen Afrikas und Asiens ist die Organisation allerdings bei lokalen Aufstandsbewegungen extrem einflussreich. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass sie unter diesem Aspekt heute deutlich stärker ist als noch vor zehn oder sogar zwanzig Jahren, als sie in den Augen des Westens auf dem Gipfel ihrer Macht war.
Wie straff organisiert muss man sich Al-Qaida dabei vorstellen?
Behnam T. Said: Das ist sehr unterschiedlich. In Jemen kontrolliert Al-Qaida quasistaatlich ganze Regionen. In Libyen wiederum ist sie nicht direkt aktiv, hat aber zu jeder der Milizen dort Kontakt. Obwohl die Organisation also eigentlich nicht mehr besteht, lebt ihr Geist. Al-Qaida existiert dort im Schatten fort.
Welche Idee eint Al-Qaida heute, wenn die Organisation einerseits im Schatten agiert und andererseits stärker denn je ist?
Behnam T. Said: Al-Qaida knüpft an ganz alte Sehnsüchte nach Stärke in der arabischen Welt an, deshalb hilft es auch, die Geschichte bis in die Zwanzigerjahre zurückzuverfolgen. Da ist die Idee eines panislamischen Großreichs, eines Kalifats, das bis heute für viele Muslime der Inbegriff eines starken Islams ist, endgültig Geschichte. Darauf kommt Al-Qaida immer wieder zurück. Konkret war das einigende Moment von spätestens Anfang der Neunziger an dann natürlich der Kampf gegen die USA, damit beginnt auch der Aufstieg Al-Qaidas und Osama bin Ladens.
Dieser Kampf steht aber nicht mehr im Mittelpunkt?
Behnam T. Said: Nein, und zwar weil er mittlerweile für die Ziele Al-Qaidas nicht mehr so wichtig ist. Wir Westler neigen dazu, die Relevanz des Westens für Al-Qaida zu überschätzen. Immer schon.
Der 11. September 2001 wirkte allerdings doch wie ein sehr heftiges Signal an den Westen.
Behnam T. Said: Absolut, und doch war er für Al-Qaida eher ein Mittel zum Zweck. Al-Qaida ging es niemals darum, Amerika oder Europa zu erobern oder zu unterwerfen. Es ging um eine Strategie, den Westen aus den muslimischen Ländern zu vertreiben. Und Osama bin Laden persönlich ging es insbesondere darum, den Westen aus zwei Ländern zu vertreiben: dem Jemen, dem Heimatland seines Vaters, und aus Saudi-Arabien, dem Land, in dem er aufgewachsen ist und in dem die beiden heiligen Stätten des Islams liegen, die Kaaba in Mekka und die Ruhestätte des Propheten Mohammed in Medina.
Bin Laden und Al-Qaida gelang es also, die Islamisten zu einen, in dem sie sie davon überzeugten, dass man Amerika bekämpfen müsse, wenn man die Verhältnisse in der muslimischen Welt zugunsten der Islamisten verändern wolle?
Behnam T. Said: Ja, die alten, tendenziell säkularen, auf jeden Fall nicht islamistischen Regime - wir reden jetzt von den Neunzigerjahren - wurden aus Sicht Al-Qaidas alle maßgeblich von den USA gestützt, vom "Kopf der Schlange". Den man erst abtrennen müsse, bevor man die Schlange besiegen könne.
Und wie sieht die Situation heute aus?
Behnam T. Said: Vollkommen anders. Nach dem Arabischen Frühling 2011 war die Region destabilisiert, es gab geschwächte Regime, Aufstandsbewegungen und reichlich Waffen - und man konnte sehen, wo der eigentliche Fokus der Bewegung lag. Ich sage Bewegung, denn Al-Qaida war da längst keine Organisation mehr, sondern tatsächlich eine Bewegung. Und als solche brauchte sie die USA und Europa nicht mehr, sondern konnte sich endlich auf die Machtergreifung in den muslimischen Ländern selbst konzentrieren, also darauf, Teil der lokalen Aufstandsbewegungen zu werden und ihnen die Al-Qaida-Agenda aufzuzwingen. Und dieses Projekt läuft heute so intensiv und erfolgreich wie nie zuvor, an vielen, vielen lokalen Fronten. Wenn auch nicht immer genau so, wie es Al-Qaida gerne hätte - man denke nur an die zwischenzeitlichen Erfolge der Konkurrenz vom IS in Syrien und dem Irak.
Vom Destabilisieren und Machtergreifen scheinen die Dschihadisten in der Regel deutlich mehr zu verstehen als vom tatsächlichen Regieren.
Behnam T. Said: Allerdings, aber die Macht der Idee eines panislamischen, auf Grundlage der Scharia regierten Reiches sollten wir auf keinen Fall unterschätzen. Gerade weil die Terrorgefahr, die derzeit von Al-Qaida für den Westen ausgeht, eher gering ist. Die Gefahr, die von der Bewegung für die arabische Welt ausgeht, ist größer denn je.
Interview: Jens-Christian Rabe
© Süddeutsche Zeitung 2018