Man muss die Sprache vom Einfluss der Religion befreien

Der libanesische Lyriker Salah Stétié schreibt auf Französisch, denn er hält die arabische Sprache nicht für zeitgerecht. Die arabischen Intellektuellen ruft er deshalb auf, sich für die Modernisierung des Arabischen zu engagieren. Ein Interview von Saleh Diyab

Salah Stétié, Foto: &copy privat
Salah Stétié: "Ich liebe die arabische Sprache."

​​Was haben Sie für ein Verhältnis zur arabischen Sprache? Warum schreiben Sie nicht auf Arabisch?

Salah Stétié: Bei allem Respekt vor der arabischen Sprache – sie ist einfach nicht auf dem Stand der heutigen Zeit. Ich als Dichter muss entweder eine Sprache innerhalb der arabischen schaffen, um die Entwicklung des arabischen Menschen, der ich bin, widerspiegeln zu können, oder ich bediene mich einer fremden Sprache.

Viele Schriftsteller bevorzugen das Arabische und sind ständig damit beschäftigt, den Wörterkanon nach ihren Bedürfnissen zu ändern. Nagib Machfus' Sprache zum Beispiel steckt voller Fehler, wenn wir uns an den Maßstäben des frühen Grammatikers Sibawayh orientieren. Hätte Machfus diese Fehler nicht gemacht, hätte keiner ihn gelesen, keines seiner Bücher wäre übersetzt worden. Er ist ein Mahnmal der Entwicklung der arabischen Kultur der Gegenwart.

Andere Autoren haben sich für eine fremde Sprache entschieden. Zu denen gehöre ich.

Der Grund, der mich dazu bewogen hat, ist ein historischer, nicht mehr und nicht weniger. Es hängt mit der Vergangenheit, der Mandatsherrschaft und dem Imperialismus zusammen. Viele arabische Schriftsteller haben notgedrungen die Sprache ihres Mandats- oder Kolonialherren aufgesogen. Sie haben sich seiner Sprache bedient, um ihn damit zu bekämpfen und sogar zu übertreffen. Und sie schreiben tatsächlich auf sehr hohem sprachlichem Niveau. Ob wir es wollen oder nicht, die Kulturen stehen einander heutzutage offen. Diese Öffnung müssen wir akzeptieren.

Können Sie auf Französisch freier schreiben, umschiffen Sie damit die Hindernisse, die einem arabischen Autor in Form der Gesellschaft und der religiösen und politischen Autoritäten im Weg stehen?

Stétié: Ein arabischer Autor, der in einer fremden Sprache schreibt, braucht sich um nichts zu kümmern, was nicht mit dem Schreiben zu tun hat. Er muss sich weder politischen Systemen, noch religiösen Instanzen verpflichtet fühlen. Außerdem verfügt der arabische Autor über keinerlei finanzielles Einkommen. Auch die Herausgeber erhalten keinerlei Unterstützung. Und es gibt in der arabischen Welt keine Leser. Bei uns sind die Leser die am wenigsten gebildeten der Welt. In Deutschland oder Frankreich liest man im Durchschnitt jährlich ein Buch; in der arabischen Welt eine Viertel Spalte in der Zeitung.

Ohne Leser kein Buch. Die moderne Welt ist kompliziert. Wenn man freie Literatur schreiben will, die der komplizierten Wirklichkeit entspricht, muss man in der Sprache des Anderen schreiben und sie zu seiner eigenen machen. Durch die Sprache des Anderen und mittels der Übersetzung arabischer Bücher in fremde Sprachen findet der arabische Autor Leser, die ihn wirklich kritisieren.

In der arabischen Welt gibt es keine echte Literaturkritik. Was man findet, entspricht dem Horizont des arabischen Denkens. Die Kritiken in Zeitungen und Büchern sind rein beschreibend. Es gibt keine bedeutenden arabischen Literaturzeitschriften. Die Lage ist wirklich katastrophal.

Sind die Romanciers und Dichter, die nicht auf Arabisch schreiben, für Sie arabische Autoren? Beeinflussen sie indirekt die arabische Literatur, möglicherweise sogar die Sprache, auch wenn sie nicht in ihr schreiben?

Stétié: Wenn der arabische Schriftsteller in einer verbreiteten Sprache schreibt wie Englisch, Französisch, Portugiesisch oder Spanisch, kann er seine Leser schnell erreichen. Wenn er auf Arabisch schreibt, muss sein Werk erst in eine andere Sprache übersetzt werden, bevor er international wahrgenommen werden kann.

Es gibt große arabische Schriftsteller in allen Sprachen, auf Spanisch, Englisch, Französisch und Deutsch. Sie drücken aus, was den arabischen Menschen bewegt, und zeichnen ein wahrhaftiges Bild des arabischen Lebens. Sie sind die Botschafter der arabischen Sprache im Ausland. Der arabischstämmige Autor vergisst seine Herkunft nicht und kommt immer wieder auf die Probleme zurück, die ihn geprägt haben.

Ab und zu äußern sich arabische Autoren, die in anderen Sprachen schreiben, sehr kritisch über die arabische Sprache, gegenwärtig könne man in ihr nicht offen und ehrlich schreiben. Wie stehen Sie als arabischer Dichter, der auf Französisch schreibt, zu solchen Äußerungen?

Stétié: Ich liebe die arabische Sprache und halte sie, in Anlehnung an meinen Orientalistik-Professor Louis Massignon, vielleicht für die älteste Sprache der Welt. Je älter eine Sprache ist, desto schwieriger und komplizierter ist ihre Grammatik. Arabisch zählt zu den schwierigsten und kompliziertesten Sprachen. Diese gewaltige Sprache bestand bereits vor dem Koran, und berückende Kleinode der Dichtkunst sind in ihr entstanden wie z.B. die Mu'allaqat.

Nachdem der Koran herab gesandt worden war, kam es zu einer Neuerung in der mohammedanischen Botschaft: Man distanzierte sich von der Dichtkunst, mehr noch, man verurteilte sie. Es ist doch merkwürdig, welche Bedeutung dem Dichter in der alten arabischen Welt beigemessen wurde, sogar in einem göttlich inspirierten Buch. Es widmet ihm gar eine ganze Sure, "Die Dichter".

So viel Aufmerksamkeit – unter Berücksichtigung der historischen Unterschiede – kam der Dichtung zuvor in einer anderen Kultur nur bei Sokrates zu, und Platon, sein Tradent, greift den Dichter an, verbannt ihn aus der Stadt und stellt ihn außerhalb seines Gesetzes.

Allerdings unterscheidet sich die Begründung im Koran von der Platons und Sokrates'. Der Koran will dem Dichter die Sprache verbieten, weil er meint, der Dichter unterwerfe sie der Verzauberung, er mache aus ihr ein betörendes Gespinst, indem er die Worte nicht gebrauche, um die Wirklichkeit der Dinge zu beschreiben. Ein Zauberer sei er, der Lüge in die Sprache bringe, der in die Worte den Gehalt eines verheißungsvollen Traums lege, um sie von innen heraus zu verderben.

So sei die Sprache nicht Dienerin der Wahrheit, sondern befördere Lüge und Heuchelei. Und da er sich so weit von der Wahrheit entfernt, ist der Dichter der Feind der Wahrheit. Nachdem die Dichtung während der ersten zwanzig Jahre von der Bühne der islamischen Kultur verbannt war, trat sie mit dem islamischen Kalifen Omar Ibn al-Khattab wieder auf. Dieser Kalif war sehr gläubig, aber auch ein großer Anhänger der Dichtkunst. Er gab ihr als "Diwan der Araber" ihren hohen Stellenwert zurück.

Omar Ibn al-Khattab verhalf der Dichtung zu neuem Ansehen, allerdings war sein Ausgangspunkt der Koran, als Beispiel für den erhabensten Sprachgebrauch. Damit war die Sprache für lange Zeit erstarrt. Große Dichter wie Abu Nuwas haben versucht, die Sprache in neuer, treffenderer Form zu gebrauchen, doch man beschuldigte ihn der Ketzerei und der Abwendung von der Religion und den Ursprüngen.

Warum gelingt Ihrer Meinung nach der arabischen Sprache der Anschluss an die Gegenwart nicht – steht sie zu stark unter dem Einfluss der Religion, oder liegt es daran, dass sie in den arabischen Wörterbüchern keine Erneuerung erfährt?

Stétié: Die Sprache stagnierte, bis die Moderne am Anfang des 19. Jahrhunderts die arabische Welt erreichte und sie gegen Ende jenes Jahrhunderts ganz durchdrungen hatte. Diese Periode wurde die erste nahda (arabische Renaissance, Anm.d.Red.) genannt und begann im Libanon. Seltsamerweise konzentrierte sich diese nahda zunächst sehr stark auf die Erneuerung der arabischen Sprache durch die Herausgabe neuer Wörterbücher und stellte Emotionalität, Phantasie und intellektuelles Denken zunächst zurück.

Im Interesse der Libanesen lag damals die Schaffung einer amtlichen Einrichtung zur Wiederbelebung und Erneuerung der arabischen Sprache, um sie von der religiösen Konnotation zu befreien. Damit betraut waren christliche Schriftgelehrte, vornehmlich der Bustani-Clan.

Denken Sie, man sollte den Nimbus der Heiligkeit, der die arabische Sprache umgibt, durchbrechen, und wie kann dies Ihrer Meinung nach geschehen?

Stétié: Besonders die Dichter bemühten sich um eine befreite und entheiligte Sprache. Die Heiligkeit des Arabischen implizierte die Verwerflichkeit neuer Wörter, da sie nicht durch den Koran oder die Tradition legitimiert waren. Man musste sich streng an die überlieferte arabische Grammatik halten, um ihr erhabenes Fundament nicht zu zerstören, und vor allem durfte man sie nicht mit fremdsprachlichen Ausdrücken anreichern, schon gar nicht mit solchen aus Kulturkreisen außerhalb der islamischen Welt oder aus einer Sprache der Ungläubigen.

Die arabischen Dichter der Moderne griffen dieses erhabene Fundament an. Sie wollten dem Denken und Empfinden der neuen Welt Tür und Tor öffnen. All diesen Neuheiten musste mit neuen Worten entsprochen werden.

Ist Arabisch für die Vermittlung wissenschaftlicher und philosophischer Texte aus anderen Sprachen ungeeignet?

Stétié: Die meisten der heute wissenschaftlich gebräuchlichen Termini, besonders in der Biologie, sind Fremdwörter. Nach entsprechender Anpassung der fremdsprachlichen Termini kann man diese sehr wohl in den Kanon der arabischen Wörter eingliedern und die Texte angemessen übersetzen. Das darf man zu Recht konstatieren.

Wir befinden uns in einer sehr kritischen Situation. Der Zug der Zeit fährt mit hoher Geschwindigkeit. Wenn wir auf diesen Zug jetzt nicht aufspringen, werden wir den Kampf um die Gegenwart verlieren. Es ist die erste Pflicht der Araber, besonders der Schriftsteller, Dichter und Wissenschaftler, Mut zu fassen und die arabische Sprache um Wörter und Ausdrücke zu bereichern, um eine neue Realität benennen zu können, die es in den Tagen der alten Araber noch nicht gab.

Gänzlich unverständlich ist es, wenn die Araber die Hände in den Schoß legen und auf eine neue göttliche Inspiration warten, um sich über die Tatsachen der Moderne verständigen zu können. Das Zeitalter göttlicher Inspiration ist vorbei, sieht man von der Dichtung einmal ab.

Noch ein Letztes: Als die Araber einst selbst die Schöpfer der Moderne waren, führten sie viele Wörter aus dem Persischen und dem Lateinischen in die arabische Sprache ein. Sie tradierten ja sogar sämtliche nicht-arabischen Philosophen und Denker, um sie wie selbstverständlich in der arabischen Welt aufzunehmen. Denn sie waren der festen Überzeugung, dass die Erkenntnisse dieser kreativen Persönlichkeiten der gesamten Menschheit zugänglich gemacht werden müssten. Möge diese Auffassung der Alten uns eine Lehre sein …

Interview von Saleh Diyab

© Qantara.de 2006

Aus dem Arabischen von Stefanie Gsell

Qantara.de

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Website von Salah Stétié (dt./franz.)