"Ich will keine Stereotype über arabische Frauen bedienen“

In ihrem Roman beschreibt Asmaa al-Atawna das Leben in Gaza aus der Perspektive eines rebellischen Mädchens, das in Familie und Schule aneckt. Als ihr die Flucht nach Europa gelingt, muss sie auch dort um ihre Selbstbestimmung kämpfen. Interview von Claudia Mende

Von Claudia Mende

Frau Al-Atawna, Sie schildern in Ihrem Roman, wie Sie aus sehr engen, gewaltvollen Verhältnissen in Gaza erst nach Spanien und dann nach Frankreich flüchten, wo Sie heute leben. Was an Ihrem Roman ist denn fiktiv?  

Asmaa al-Atawna: Als ich meinen Roman geschrieben habe, sind sehr viele Gefühle und Erinnerungen bei mir hochgekommen. Wenn es für mich wirklich hart wird beim Schreiben, dann versuche ich die Dinge leichter darzustellen. Denn vieles von dem, was ich erlebt habe, war wirklich schwierig. 

So habe ich Fiktives ergänzt und Elemente von Ironie eingebaut. Es geht um wahre Begebenheiten, aber ich habe z.b. die Namen im Roman verändert, um die Geschichte dramatischer klingen zu lassen. Zum Beispiel habe für die männlichen Figuren fiktive Namen genommen, im Buch heißt mein Großvater Abu Shanab, "Vater des Schneuzers“, ein anderer heißt Abu Harb,"Vater des Krieges“.  Die Namen sollen den patriarchalen Charakter der Ereignisse unterstreichen.   

Ich habe mit meinen Erinnerungen gearbeitet, aber wenn ich mich an eine Szene von früher nicht mehr erinnern konnte, habe ich etwas ergänzt. Ich nenne das "documentary fiction“. Ich wollte, dass man beim Lesen Riechen und Fühlen kann, was ich erlebt habe. 

"Es geht um mein Leben"

Haben Sie damit eine Distanz zwischen sich und dem Text geschaffen? 

Al-Atawna: Ja und nein, es gibt eine Distanz, denn ich habe 20 Jahre gewartet, um dieses Buch zu schreiben und meine Geschichte zu erzählen. Trotzdem habe beim Schreiben immer noch diesen Schmerz verspürt.

Cover von Asma al-Atawneh "Keine Luft zum Atmen. Mein Weg in die Freiheit", Lenos Verlag 2021; Quelle: Verlag
"Nachdem mein Roman erschienen war, der ja auch beschreibt, was in unseren Gesellschaften falsch läuft, wurde er aber von den arabischen Medien weitgehend ignoriert,“ sagt Asmaa al-Atawna. "Auf Facebook habe ich aber sehr viele positive Rückmeldungen von arabischen Frauen bekommen und das ist mir total wichtig. Ich möchte andere Frauen ermutigen, gerade auch im arabischen Kulturbetrieb. Da sollen Frauen ihren Mund halten, vor allem wenn sie Kritik an unseren Gesellschaften üben. Wenn sie etwas veröffentlichen, das die Gesellschaft schockiert, werden sie abgelehnt, alle zeigen mit dem Finger auf sie. Aber da müssen wir durch, sonst ändert sich nie etwas und wir haben weiterhin Angst, wir selber zu sein.“ 

Andererseits gibt es keine Distanz, denn es geht um mein Leben. Am besten kann ich es so beschreiben, ich habe diesen Roman mit meinen Tränen, mit meinem Blut und meinem Schweiß geschrieben. 

In der palästinensischen Literatur nehmen die Belastungen durch die israelische Besatzung einen breiten Raum ein. Sie schreiben aber auch darüber, wie Sie als rebellisches Mädchen in einer konservativen Familie ausgebremst wurden oder wie schwarze Palästinenser diskriminiert werden.    

Al-Atawna: Es gibt schon eine Tendenz in der palästinensischen Literatur zu sagen, wir leben unter israelischer Besatzung, du solltest lieber nicht über dieses oder jenes schreiben. Wie um unsere Versäumnisse und Mängel hinter der israelischen Besatzung zu verstecken. Natürlich beeinflusst das eine das andere.



Aber während wir gegen die Besatzung kämpfen, können wir auch gegen die konservative Gesellschaft kämpfen. Wir können an beidem arbeiten. Nur weil wir unter der Besatzung leben, sind wir nicht immer nur Opfer, nein.



Wir müssen die Benachteiligung von Frauen in unserer Gesellschaft auch angehen. Nur weil ich unter Besatzung lebe, habe ich nicht das Recht, meinen Nachbarn zu unterdrücken, weil er schwarz ist oder sie eine Frau ist.  

Hängt nicht beides zusammen? Druck von außen verstärkt doch die Gewalt in den Familien.

Al-Atawna: Genau, deshalb urteile ich nicht in meinem Roman. Das ist vielleicht die Distanz zwischen mir und dem Text. Ich schreibe über den Stadtteil von Gaza, in dem ich aufgewachsen bin.



Gaza ist eine der ärmsten Regionen der Welt, von der israelischen Armee umzingelt, die Menschen haben keine Arbeit, kein Geld und sie können nicht raus. Also was kann man tun? Es wird sehr viel getratscht und geschaut, was macht mein Nachbar. Gewalterfahrungen und Traumatisierungen werden von einer Generation an die andere weitergegeben.



Meine Großmutter hat ihren Verstand verloren, als sie im Negev von Israelis aus ihrem Haus vertrieben wurde und mit meinem Großvater nach Gaza lief, um zu überleben. Ich habe ihr Trauma auch durchlebt.  

"Bitte steckt mich in keine Schublade"

"Arabische Frau befreit sich von ihrer repressiven Kultur“ ist im Westen ein beliebtes Stereotyp. Wie kann man über Benachteiligung schreiben und gleichzeitig diesem Klischee entgehen? 

Al-Atawna: Ich will dieses Klischee nicht bedienen. Bei meinen Lesungen erlebe ich immer wieder, dass sich Frauen, auch hier in Deutschland, in meinen Erfahrungen wiederfinden. Frauen leiden überall unter Unterdrückung, ob in Gaza, in Deutschland oder in Frankreich. Wir kämpfen alle.  

Ich möchte dieses Stereotyp von der unterdrückten, verschleierten arabischen Frau nicht bedienen. Das möchte der Westen gerne in uns sehen, aber das sind wir nicht. Diese Form von Orientalismus ist eine westliche Fantasie, sie entspricht nicht der Realität. Meine Mutter etwa kann weder Lesen noch Schreiben, sie war nur kurz auf der Schule und musste dann abgehen, um zuhause zu helfen, aber sie ist sehr stark. 

Es gibt in Europa arabische Frauen, die in Kunst und Kultur diese Stereotype bewusst bedienen, um sich hier eine Karriere aufzubauen. Sie füttern diese Fantasie und das finde ich nicht gut. Frauen werden überall auf der Welt unterdrückt, nicht nur in unserer arabischen und muslimischen Kultur. Bitte steckt mich in keine Schublade. Schaut euch das genau an. Ich will die Debatte öffnen, anstatt sie zu schließen. 

Ihre Mutter ist in ihrer Ambivalenz die interessanteste Figur im Buch. Einerseits schlägt sie ihre Kinder und ist überfordert, andererseits weiß sie ganz genau, was sie will. 

Al-Atawna: Oh ja, meine Mutter ist eine starke Frau. Als ich etwa 11 Jahre alt war, sah ich, wie sie einem Mann hinterher gelaufen ist und ihn ins Ohr gebissen hat (lacht), weil er meinen Vater in der Arbeit ständig belästigt hat. Mein Vater wollte das auf sich beruhen lassen, meine Mutter nicht. Als wir draußen saßen und der Mann vorbeikam, rannte sie ihm hinterher, biss ihn und schrie ihn an, er solle ihren Mann endlich in Ruhe lassen. Darin erinnere ich mich bis heute.  

Die Autorin Asma al-Atawneh; Foto: Lenos Verlag
Asmaa al-Atawna, geb. 1978 in Gaza, stammt aus einer Familie von Beduinen. Mit 18 Jahren floh sie nach Frankreich. Sie studierte Politikwissenschaft und Experimentellen Film, arbeitete als Journalistin und Autorin. Sie lebt in Toulouse. 

Dennoch gibt es einen großen Unterschied zwischen der älteren und der jüngeren Generation von arabischen Frauen. Jüngere Frauen sind wesentlich radikaler. Das sieht man auch in der Literatur. 

Al-Atawna: Ja, heute erhebt die junge Generation in der Literatur, in der Musik, im Film ganz anders ihre Stimme als die Älteren. Bei uns geht es um sehr viel. Es gibt Frauen, die ihr Leben riskieren, um zur Schule gehen zu können.



In Europa diskutieren Feministinnen darüber, ob wir uns die Haare rasieren sollen oder nicht. Diese Art von Feminismus interessiert mich nicht, wir müssen die wirklich wichtigen Fragen ansprechen, hier und in der arabischen Welt, wo viele Frauen Angst vor den Folgen haben, wenn sie Missstände ansprechen. Wir müssen stärker sein als unsere Mütter, sonst haben wir keine Chance. 

Von arabischen Medien ignoriert

Ihr Buch ist zuerst auf Arabisch beim Kulturfonds AFAC in Beirut erschienen. Wie war denn die Resonanz im arabischen Raum? 

Al-Atawna: Ich hatte bei einem Wettbewerb ein Stipendium von AFAC gewonnen, das darin bestand, dass sie das Buch lektorieren und herausbringen. Nachdem mein Roman erschienen war, der ja auch beschreibt, was in unseren Gesellschaften falsch läuft, wurde er aber von den arabischen Medien weitgehend ignoriert.



Nur die libanesische Zeitung L’Orient-Le Jour brachte eine Kritik, das hat mich schon sehr bedrückt, aber irgendwie dachte ich dann, das Buch werde seinen Weg machen. Was ja auch geschehen ist. 

Auf Facebook habe ich aber sehr viele positive Rückmeldungen von arabischen Frauen bekommen und das ist mir total wichtig. Ich möchte andere Frauen ermutigen, gerade auch im arabischen Kulturbetrieb. Da sollen Frauen ihren Mund halten, vor allem wenn sie Kritik an unseren Gesellschaften üben. Wenn sie etwas veröffentlichen, das die Gesellschaft schockiert, werden sie abgelehnt, alle zeigen mit dem Finger auf sie. Aber da müssen wir durch, sonst ändert sich nie etwas und wir haben weiterhin Angst, wir selber zu sein.  

Sie beschreiben die brutale Gewalt in Ihrer Familie. Trotzdem liest sich Ihr Roman für den Leser leicht. Arbeiten Sie bewusst mit dem Mittel der Ironie, um die Schwere für den Leser abzufedern?  

Al-Atawna: Schauen Sie sich Charlie Chaplin an oder Buster Keaton, sie haben das ironische Lachen auch genutzt. Ich wollte zeigen, wie man das Tragische in eine Komödie verwandeln und das Absurde darin zum Ausdruck bringen kann. Und das ist sehr palästinensisch. Wir lachen viel in Gaza, das ist Teil unseres Widerstands gegen die Situation. Wir machen uns über alle lustig, die Israelis, die Hamas und über uns selbst. Manchmal ist alles zu viel, aber danach machen wir wieder Witze. Über das Lachen können wir uns besser verbinden als über Tränen. Verdammt, wir wollen doch einfach nur leben. 

Das Interview führte Claudia Mende.

© Qantara.de 2022

Asmaa al-Atawna, "Keine Luft zum Atmen – Mein Weg in die Freiheit“, Lenos 2021