"Mechanismen völliger Enthemmung bei IS-Dschihadisten"

Der Publizist Navid Kermani reiste Mitte September eine Woche durch den Irak. Dort hat er verschiedene Landesteile besucht. Den multi-konfessionellen Charakter des Landes sieht er unwiderruflich verloren. Mit ihm sprach Kersten Knipp.

Von Kersten Knipp

Herr Kermani, im Rahmen Ihrer Reise in den Irak haben Sie sich auch in der irakischen Hauptstadt, in Bagdad, aufgehalten. Welche Eindrücke haben Sie von dort mitgenommen?

Navid Kermani: Bagdad ist eine Stadt im Ausnahmezustand. Es gibt einige wohlhabende Viertel, in denen halbwegs Normalität herrscht und die gut gesichert sind. Doch der Rest der Stadt ist sich selbst überlassen. Zwar gibt es erheblich weniger Attentate mit Autobomben als noch vor einiger Zeit. Aber stattdessen herrscht nun Kriminalität. Der Staat ist nicht präsent – und das fördert natürlich die Kriminalität.

Welches Grundgefühl hatten Sie denn während Ihres Aufenthalts in Bagdad?

Kermani: In den zweieinhalb Tagen, die ich in Bagdad war, habe ich niemanden lachen sehen. Die Menschen sind höchst angespannt, haben ungeheure Traumata erlitten. Und das nicht erst seit kurzem, die Gewalt reicht ja weit zurück: der achtjährige Krieg mit dem Iran mit einer Million Toten. Dann der Golfkrieg zu Beginn der 1990er Jahre. Überhaupt die Herrschaft Saddam Husseins: Man schätzt, dass unter seiner Herrschaft zwischen zwei und viereinhalb Millionen Schiiten umgebracht wurden. Dann kam die Invasion 2003 und das darin sich anschließende Chaos.

Hinzu kommen offenbar auch die Folgen der kulturellen Zerstörung.

Kermani: Ja. In den alten Museen und Palästen ist alles zerstört oder ausgeraubt. Denken Sie an die Aktion "Ali Baba": Die amerikanischen Soldaten haben die Iraker aufgefordert, ihre Museen zu plündern. Das heißt, es ist alles weg. Wenn man über Jahre ein solches Chaos, eine solche Anarchie herstellt, führt das auch zu einer moralischen Korruption. Das geschieht nicht über Nacht. Aber irgendwann, nach Jahren immer neuer Schläge, führt das irgendwann auch zu einer solchen Enthemmung, wie man sie bei Einzelnen im Irak derzeit beobachten kann.

Woran orientieren sich die Iraker denn dann? Gibt es irgendwelche Normen?

Kermani: Sie orientieren sich immer stärker an der eigenen Gemeinschaft. Die Beziehungen sind immer stärker ethnisch geprägt. Das alte multikulturelle Bagdad – bis in die vierziger Jahre stellten die Juden die größte und zudem intellektuell führende Bevölkerungsgruppe der Stadt –, dieses multikulturelle Bagdad gibt es nicht mehr. Jetzt hingegen stützen sich die Menschen auf die Mitglieder ihrer jeweiligen konfessionellen Gruppe. In der Gruppe herrscht Solidarität, dort hilft man sich. Weniger hilft man hingegen den Mitgliedern anderer Konfessionen. Der Gemeinsinn ist stark geschwunden.

Wie sehen Sie die Rolle des im August zurückgetreten Premiers Nuri al-Maliki? Wäre es nicht seine Aufgabe gewesen, die Konfessionen wieder miteinander zu versöhnen?

Kermani: Er hat genau das Gegenteil gemacht – und das werfen ihm nahezu alle Gesprächspartner vor, die ich getroffen habe. Die oberste schiitische Geistlichkeit, einschließlich Großayatollah Al-Sistani, hat mir erklärt, Al-Maliki habe diesen Zustand ganz bewusst herbeigeführt. Er habe die Konfessionen ganz bewusst gegeneinander ausgespielt, um Chaos zu säen, um selbst ein neuer Saddam zu werden und sich als neuer starker Mann zu präsentieren. Diese Rechnung ist nun katastrophal gescheitert.

Und das hat sich nun die Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) zunutze gemacht.

Kermani: Ja. In ihr ist Saddam Husseins alte Elite sehr aktiv. Das gilt ja generell für den Fundamentalismus: Viele seiner Führer kamen und kommen aus einem säkularen Milieu. Sie waren etwa Ärzte und Ingenieure. Und wenn man sich jetzt die Biographien der IS-Führer anschaut, sieht man, dass das oft keine Absolventen der theologischen Hochschulen, sondern säkular ausgerichtete Menschen sind. Die haben sich dann aber gegen die Tradition gewendet und wollen nun zu einem imaginären Uranfang zurückkehren.

Welches Verhältnis haben diese Leute zur Religion?

Kermani: Man sollte die religiöse Fassade ernst nehmen. Viele europäische Dschihadisten, viele Dschihadisten vor Ort, dazu der Wahhabismus, der dazu beigetragen hat, dass diese Ideologie sich ausbreiten konnte: all das ist schon religiös, das muss man ernst nehmen. Das ist eine religiöse Denkstruktur. Nur: Diese Struktur wendet sich gegen die eigene Tradition. Sie schafft – und da ist ein protestantisches Element drin – die Tradition ab, um zur nackten Schrift zurückzukehren. Es ist also eine anti-traditionelle Bewegung.

Wie wirkt sich der Terror des IS auf das ethnisch-religiöse Gefüge des Irak aus?

Kermani: Es ist offenkundig, dass die sunnitisch-arabische Bevölkerung sich gegenüber den Schiiten, den Christen und den Jesiden nicht eben solidarisch verhalten hat. Das Misstrauen ist riesengroß. Die Leute haben Angst, zurückzukehren. Sie sagen, wir haben über Jahrhunderte mit diesen Leuten Tür an Tür gelebt. Aber als wir fliehen mussten, haben sie unsere Häuser ausgeraubt. Für wie viele das gilt, weiß ich nicht. Man weiß, dass der IS gegen alle – auch die Sunniten – vorgeht, die sich dagegen wehren. Die Leute werden sofort umgebracht. Inwieweit sämtliche der mir erzählten Erlebnisse zutreffen, kann ich nicht sagen. Fakt ist aber, dass die Menschen Angst haben, zurückzukehren. Und genau das ist die Saat des Terrors. Die IS-Milizen mögen irgendwann mal verschwinden. Aber das Misstrauen wird bleiben. Und das wird dazu führen, fürchte ich, dass der multikonfessionelle Irak zumindest in den zentralen Regionen des Landes unwiderruflich verloren ist.

Buchcover: "Zwischen Koran und Kafka: West-östliche Erkundungen"; Foto: Amazon
In seinem neuesten Werk "Zwischen Koran und Kafka" lässt Navid Kermani die Grenzen zwischen Orient und Okzident verschwinden, um auf elegante und politisch aktuelle Weise zu demonstrieren, was Weltliteratur ist.

Wie genau ist das möglich? Was sind die Strategien des IS?

Kermani: Ich glaube, es gibt einen Unterschied zwischen der derzeitigen Generation der Dschihadisten und den Attentätern von 9/11. Damals handelte es sich um hoch gebildete Menschen mit erfolgreichen säkularen Biographien. In gewisser Weise handelte es sich um Eliten. Die Leute hingegen, die jetzt aus dem Westen in den Dschihad ziehen, sind – soweit man die Biographien kennt – überwiegend Verlierertypen. Und diese Leute bekommen dann eine unglaubliche Macht: Sie bekommen eine MG in die Hand; sie werden plötzlich zu Herrschern; sie können sich die Frauen nehmen. Es handelt sich zum großen Teil um kriminelle Biographien, die dann durch irgendein Erweckungserlebnis islamisch werden. Und dann dürfen sie die gleiche Gewalt wie vorher ausüben.

Sie dürfen alles nehmen – und sind plötzlich auch noch auf der legalen Seite. Das ist eine große Faszination. All das also wird jetzt auch noch religiös legitimiert. Da spielt also viel Adrenalin mit. Ich glaube zudem, dass der Islamische Staat (IS) die eigenen Milizen mit terrorisiert, sie soweit in den Terror hineinzieht, dass sie in ein normales Leben nicht mehr zurückkehren können. So soll ein normales Zusammenleben über Jahrzehnte vernichtet werden. Das sind Mechanismen der völligen Enthemmung. So etwas kann man auch in anderen Bürgerkriegen beobachten. Und wer sich einmal so weit enthemmt, wer sich alles erlaubt – mit dem möchte man nicht mehr zusammenleben. Auf diese Weise kann man mit relativ wenigen Leuten eine historische Zäsur herstellen, wie es im Irak der Fall ist.

 

Navid Kermani ist mehrfach preisgekrönter Schriftsteller und Orientalist. Seine aktuelle Reise durch den Irak hat er im Auftrag des Wochenmagazins "Der Spiegel" unternommen. Sein neues Buch ist im C.H.Beck-Verlag erschienen: "Zwischen Koran und Kafka: West-östliche Erkundungen."

Das Gespräch führte Kersten Knipp.

© Qantara 2014