''Damit die Menschen ihre Geschichten selbst erzählen können''
Herr Remati, sie arbeiten seit über 30 Jahren in der Filmindustrie. Unter anderem waren Sie in leitender Funktion für den australischen Rundfunk tätig. Was hat Sie veranlasst, dem Ruf der königlichen Filmkommission Jordaniens zu folgen und die Leitung des Rote-Meer-Instituts für cineastische Berufe in Aqaba zu übernehmen?
Paolo Remati: Ich bin seit Januar 2011 am Institut tätig. Beim australischen Rundfunk hatte ich das Privileg, gemeinsam mit Aborigines einen nationalen Fernsehsender für Ureinwohner aufzubauen. Dabei ist mir klar geworden, wie sehr man Menschen stärken kann, indem man sie den Umgang mit audiovisuellen Medien lehrt und ihnen so die Möglichkeit, zu kontrollieren, welche Geschichten über sie erzählt werden.
Was mich an Jordanien auch interessierte, war, dass ich hier keine ausgetretenen Pfade beschreite. Für mich ist der Nahe Osten derzeit eine der spannendsten Regionen, ich wüsste nicht, warum ich woanders sein sollte. Hier am Institut bilden wir junge, hochintelligente Menschen aus der gesamten arabischen Region aus – nicht nur aus Jordanien.
Wenn man Menschen aus verschiedenen Kulturen zusammenbringt und versucht, ihre Fähigkeiten als Geschichtenerzähler zu erschließen, dann kann man sehr interessante Ergebnisse erzielen.
RSICA ist Partnerin der University of Southern California in Los Angeles, USA. Kulturelle Identität und Religion sind in der arabischen Welt sehr wichtige Themen. Wie gehen Sie damit an der Schule um?
Remati: Das Thema Identität stellen wir in den Vordergrund und es ist aus unserer Sicht untrennbar verbunden mit religiösen Praktiken. Wir üben aber keinerlei Zensur aus, was die Inhalte betrifft, die unsere Studierenden produzieren. Worauf wir jedoch insistieren, sind Respekt und professionelle Zusammenarbeit. Eine der großen Herausforderungen in der arabischen Region ist der autoritäre Charakter der Bildungssysteme. Manche Studierende kommen mit der Vorstellung hierher, dass die Lehrenden alles wissen müssen. Wir versuchen, kritisches Denken und kritische Debatten zu fördern.
Für manche Studienanfänger ist das eine echte Herausforderung. Sie kommen und sagen: "Wie, ich darf eine eigene Meinung haben? Ich darf selber denken?" Und wir sagen: "Aber sicher – in der Kunst ist deine Meinung das, was am meisten zählt!" Wir fordern die Studierenden auf, sich auszudrücken. Wenn du eine besondere Sicht auf ein besonderes Thema hast, dann los – erzähl deine Geschichte! Aber erzähle sie gut!
Jordanien hat in den letzten Jahren als Kulisse für einige große internationale Filmproduktionen gedient. Was kann RSICA beitragen, um die nationale Filmszene in Jordanien zu stärken?
Remati: Gemeinsam mit unseren Kollegen von der Königlichen Filmkommission (RFC) wollen wir das Wachstum einer Industrie ankurbeln. RSICA ist für mich nicht nur eine Filmschule. Wir sind eine Institution für die Entwicklung der Bildschirmindustrie. Wir interessieren uns nicht nur für die eher linearen Erzählformen des klassischen Kinos, sondern wir arbeiten auf ein transmediales Modell hin. Das bedeutet, dass man in strukturierter Form alle möglichen Medien nutzt, um Geschichten und Charaktere lebendig zu machen.
Aqaba ist eine kleine Stadt. Welche Vorteile bietet dieser Standort für RSICA?
Remati: Selbstverständlich gibt es Stärken und Schwächen. Ein Grund, RSICA hier anzusiedeln, ist, dass Aqaba Teil einer wirtschaftlichen Entwicklungszone ist ("Aqaba Special Economic Zone"). Aber es gibt auch andere Vorteile.
Erstens sind hier alle gewissermaßen auf Neuland, egal ob sie aus Kairo, Beirut oder Amman stammen. Zweitens die Landschaft hier: Schauen Sie sich um, das ist einmalig. Egal, in welche Richtung man die Kamera hält, ob aufs Meer, auf die Berge oder in die Wüste: die Ausblicke sind immer faszinierend.
Das RSICA bietet auch Schauspielkurse für die einheimische Bevölkerung an. Wie reagieren die Menschen in Aqaba auf das Angebot?
Remati: Zum Filmemachen braucht man Schauspieler. Die gibt es in Aqaba nicht. Deshalb bieten wir wöchentlich Schauspielkurse an. Das hilft uns übrigens auch, gute Beziehungen zur lokalen Bevölkerung aufzubauen. Wir haben in Aqaba bereits einige ausgezeichnete Schauspieler gefunden.
Wir arbeiten ja nicht allein auf weiter Flur, und wir fühlen uns verpflichtet, den Einheimischen etwas zurückzugeben. Seit diesem Jahr bieten wir neben den Schauspielklassen auch Musikunterricht an. Ich fände es gut, wenn Filmmusiken hier vor Ort entstehen würden. Letztlich geht es um kulturelle Authentizität. Wir haben einige jüngere Schauspieler, die äußerst talentiert sind, einer ist ein richtiger Robert de Niro. Ohne die Schauspielklassen hätten wir das nicht entdeckt.
Die Studierenden am RSICA haben fast alle einen arabischen Background. Inwiefern können sie dazu beitragen, Klischees und Vorurteile über die arabische Welt abzubauen?
Remati: Wir können dazu einen bescheidenen Beitrag leisten. Als multikulturelle Schule nutzen wir Englisch als Arbeitssprache. Aber die Inhalte kreieren die Studierenden in ihrer Muttersprache, das heißt fast ausschließlich auf Arabisch. Das fördert nicht nur den Aufbau der lokalen Industrie und hilft den Studierenden bei der Jobsuche. Es ist auch positiv hinsichtlich der nationalen Identität, des sozialen Zusammenhalts und des kulturellen Austauschs. RSICA ist ein guter Prototyp für einen Mechanismus des Kulturaustauschs.
Interview: Martina Sabra
© Qantara.de 2012
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de