Zwiespalt in Kirkuk

Was 2003 als "Operation Iraqi Freedom" begann, scheint in Kirkuk in einer Operation der Wiederherstellung der Sicherheit zu enden: Acht Jahre nach dem Einmarsch amerikanischer Truppen herrscht ein Verteilungskampf um die nordirakische Stadt. Einzelheiten von Rigien Bagekany

Von Rigien Bagekany

Acht Jahre nach dem Irak-Krieg überschatten immer noch Anschläge und Entführungen den Alltag im Zweistromland. Im Dezember dieses Jahres ist der Abzug der amerikanischen Truppen aus dem Irak geplant. Jedoch hat der irakische Präsident Jalal Talabani im Juli bestätigt, dass das irakische Militär noch lange nicht in der Lage ist, die Sicherheit im Land alleine zu verteidigen. Die Obama-Administration hatte der irakischen Regierung bereits vor mehreren Monaten angeboten, die Frist für den Militärabzug zu verlängern.

Dennoch zögerte der irakische Ministerpräsident Nuri al-Maliki, vom Parlament Unterstützung zu fordern. Nicht zuletzt wegen der starken Ablehnung einer amerikanische Militärpräsenz durch einige Mitglieder seiner Koalitionspartner. Unter ihnen sind insbesondere Loyalisten von Muqtada al-Sadr, dem Führer der ehemaligen Mahdi-Miliz, die vor allem im Jahr 2004 einen bewaffneten Widerstand gegen amerikanische Soldaten führte.

Letztendlich haben Anfang August Vorsitzende der wichtigsten irakischen Parteien nach intensivem Druck der Amerikaner Ministerpräsident al-Maliki zugebilligt, Verhandlungen über eine mögliche Verlängerung der amerikanischen Militärpräsenz im Irak aufzunehmen.

Insbesondere für die Stadt Kirkuk könnte der Rückzug der amerikanischen Truppen schwerwiegende Folgen haben. Kirkuk ist eine der erdölreichsten Städte im Norden Iraks mit 850.000 Einwohnern, bestehend aus Arabern, Kurden, Turkmenen, Armeniern und Assyrern. Die Amerikaner unterstützen dort die einheimischen Sicherheitskräfte dabei, die Stadt zu sichern. Des Öfteren aber haben sie eine Vermittlerfunktion, wenn Konflikte innerhalb der vielen Bevölkerungsgruppen drohen zu eskalieren.

Vertreibung von Kurden, Turkmenen und Christen unter Saddam

Karte von Kirkuk/Irak; Foto: AP
"Araber, Kurden und Turkmenen fürchten sich alle vor dem Einfluss der anderen und vergessen dabei, dass die Sicherheit der Stadt auf dem Spiel steht", sagt der Politikberater Rebin Rasul.

​​Kirkuk liegt in den so genannten "umstrittenen Gebieten", um die ein Territorialkonflikt zwischen der irakischen Regierung und der Autonomen Region Kurdistan schwelt. In dem Konflikt geht es um die Kontrolle über einen Grenzstreifen in den Provinzen Kirkuk, Ninawa und Diyala. Obwohl die Autonome Region Kurdistan im Norden Iraks von der Gewaltwelle nach 2003 erspart wurde und vom wirtschaftlichen Boom profitiert, ist die Sicherheitslage in diesen umstrittenen Gebieten heikel.

Die Stadt Kirkuk ist außerdem regelmäßig Schauplatz von Bombenanschlägen verschiedener militanter Gruppen und damit eine der unsichersten Städte im Irak. "Wir haben hier mit vielen terroristischen Gruppierungen zu tun. Dazu gehören zum Beispiel ehemalige Anhänger der Baath-Partei, aber auch Gruppen wie die sunnitisch-islamistische Ansar al-Islam oder die islamistische Ansar al-Din", so Jamal Tahir Bakir, der Polizeipräsident Kirkuks. Bakir selbst ist im Mai dieses Jahres einem Mordattentat entkommen.

Während der Herrschaft Saddam Husseins war Kirkuk der Arabisierungs-Politik ausgesetzt, die die Vertreibung von mehr als 100.000 Kurden, Turkmenen und Christen in südlichere Regionen des Landes zur Folge hatte. In dieser Zeit siedelte das Baath-Regime arabische Familien nach Kirkuk um, mit dem Ziel, den Einfluss anderer Bevölkerungsgruppen zu reduzieren.

Nach dem Sturz Saddam Husseins sollte Artikel 140 der neuen irakischen Verfassung den Status der umstrittenen Gebiete lösen. Demzufolge sollte eine Roadmap erstellt werden, um die Rückkehr der Vertriebenen sicherzustellen. Danach sollte mittels eines Referendums entschieden werden, ob Kirkuk unter kurdischer oder irakischer Verwaltung regiert wird. Das für November 2007 geplante Referendum wurde jedoch bis jetzt wiederholt verschoben.

Spielball verschiedener Parteien

Kirkuk ist Spielball verschiedener externer, am Konflikt beteiligter Parteien. Dabei werden die Araber von Bagdad, die Kurden von der Autonomen Region Kurdistan und die Turkmenen von der Türkei vertreten. Bagdads Sorge, Kirkuk an die Kurden zu verlieren, kann mit der Furcht vor dem Verlust wichtiger Erdölreserven und einer Stärkung der kurdischen Autonomie begründet werden.

Für die Türkei stellt dieses Szenario eine Bedrohung für die turkmenische Minderheit und einen weiteren Schritt in Richtung eines unabhängigen kurdischen Staates im Nordirak dar. Die Kurden begründen unterdessen ihren Anspruch an Kirkuk mit der historisch beweisbaren kurdischen Identität Kirkuks sowie die Verteidigung der Interessen der kurdischen Mehrheit in der Stadt. Zweifellos spielt für die Kurden auch die Kontrolle über die Erdölreserven eine große Rolle.

Straße in Kirkuk; Foto: Rigien Bagekany
Spielball ausländischer Interessen: "Für die einfachen Einwohner Kirkuks sind diese Interessenskonflikte zum Verhängnis geworden", schreibt Bagekany.

​​Für die einfachen Einwohner Kirkuks sind diese Interessenskonflikte zum Verhängnis geworden. Auch wenn die US-Soldaten von vielen in Kirkuk als ungewünschte Besatzung betrachtet werden, sind sich viele darüber einig, dass die Sicherheit ihrer Stadt ohne sie undenkbar ist. "Fast all meine Verwandten und Freunde, die verschiedene ethnische Hintergründe haben, wollen, dass die Amerikaner erst einmal bleiben", sagt Nwiner Fatih, ein Journalist aus Kirkuk. "Solange die ethnischen Gruppen uneinig sind, und die Sicherheitslage schlecht ist, müssen sie einfach bleiben."

Der irakische Politikberater Rebin Rasul sagt, dass Kirkuks heikle Sicherheitslage auf einem Vertrauens- und Kooperationsmangel unter den vielen Bevölkerungsgruppen basiert. "Araber, Kurden und Turkmenen fürchten sich alle vor dem Einfluss der anderen und vergessen dabei, dass die Sicherheit der Stadt auf dem Spiel steht", so Rasul.

Durch ihre neutrale Vermittlerrolle in der umstrittenen Vielvölkerstadt haben sich die Amerikaner Vertrauen von allen Seiten erarbeitet. Vertreter von kurdischer und turkmenischer Seite in Kirkuk sprechen sich für die Verlängerung der Rückzugsfrist aus. Diese beiden Gruppen fürchten eine Wiederholung der Politik der Arabisierung, erklärt Rasul: "Sie glauben, dass mit dem Rückzug der Amerikaner die arabisch dominierte Zentralregierung an Macht gewinnen und die kurdisch-turkmenische Interessen marginalisieren könnte."

Fragile Sicherheitslage

Wie fragil die Sicherheitslage in Kirkuk tatsächlich ist, zeigen allein die Anschläge der letzten Wochen, die mehrere Menschen verwundeten. In den letzten Monaten starben Dutzende bei Autobomben-Attentaten.

Autobomben-Attentat in Kirkuk im Mai 2011; Foto: dpa/Kahlil Al-Anei
Fragile Sicherheitslage: Auch wenn die Autonome Region Kurdistan von der Gewaltwelle nach dem amerikanischen Einmarsch verschont blieb, erlebt die Stadt Kirkuk nach wie vor Attentate verschiedener terroristischer Gruppen.

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Polizeipräsident Bakir ist der Auffassung, dass es der Polizei an personeller und technischer Ausstattung sowie an Erfahrung fehlt. "Wir operieren mit den amerikanischen Soldaten. Sie sind uns militärisch überlegen und für uns eine große Hilfe", erklärt er.

Zurzeit sind noch etwa 47.000 US Soldaten im Irak. Bei der Entscheidung muss über die Zahl der zu verbleibenden Soldaten sowie über ihre militärische Rolle entweder zur Verteidigung oder Ausbildung der irakischen Streitkräfte bestimmt werden. Außerdem soll diskutiert werden, ob die Soldaten durch das Immunitätsgesetz vor Strafverfolgungen im Irak geschützt werden.

Falls sich Ministerpräsident al-Maliki mit den amerikanischen Verhandlungspartnern über eine Verlängerung der US-Präsenz zum Zweck der Ausbildung von irakischen Sicherheitskräften entscheidet, benötigt er keine Zustimmung vom Parlament. Andernfalls muss jede Verhandlung vom irakischen Parlament bewilligt werden. Daher ist noch nicht voraussehbar, ob eine Fristverlängerung tatsächlich zu Stande kommt.

Was 2003 als "Operation Iraqi Freedom" begann, scheint in Kirkuk in einer Operation der Wiederherstellung der Sicherheit zu enden. Es wird heutzutage in Kirkuk nicht mehr diskutiert, ob der US-amerikanische Einmarsch richtig war, sondern, wie man es schafft, die Sicherheitslage stabil zu halten. Nach dem Motto: "Sie sollen beenden, was sie angefangen haben".

Rigien Bagekany

© Qantara.de 2011

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de