Refugium für Extremisten

Zwei Jahre nach dem Sturz von Muammar al-Gaddafi gilt Libyen als "Wilder Westen" Nordafrikas. Insbesondere im libyschen Teil der Sahara sollen sich radikale Kräfte tummeln, die teilweise auch Al-Qaida nahe stehen. Von Valerie Stocker

Von Valerie Stocker

Im Bürgermeisteramt von Isseyen inmitten der libyschen Sahara scheint die Zeit stillzustehen. Seit der Wählerregistrierung für die anstehenden Kommunalwahlen ist in den karg eingerichteten Büros Ruhe eingekehrt. Nur die Satelliten-Internetverbindung lockt Besucher an, denn im gesamten Umkreis gibt es seit der Revolution kaum noch öffentliche Dienstleistungen.

Doch die Stille trügt. Südwestlich von Ghat gelegen ist Isseyen der letzte Ort vor der algerischen Grenze, über die Schmugglerbanden und Tuareg-Kämpfer aus Mali ungehindert nach Libyen eindringen - unter anderem, so munkelt man, auch Mitglieder von "Al-Qaida im Islamischen Maghreb" (AQIM). "Genau dort habe ich Al-Qaida-Fahrzeuge gesichtet, aber die Behörden wollten wie immer nichts davon wissen", behauptet Hassan Massafer, der in Ubari, 400 Kilometer weiter im Landesinneren, einer Armee-Einheit angehört.

Graffiti from the "Martyr Brigade Isseyen" indicates the presence of rebel forces

Bewohner von Isseyen sind skeptisch. "Kürzlich waren wieder einmal Gerüchte im Umlauf, dass sich ein schwer bewaffneter Al-Qaida-Konvoi gen Norden bewege. Doch als man der Sache nachging, stellte sich heraus, dass es sich um eine örtliche Grenzschutztruppe handelte“, erzählt Fremdenführer Abishini Aissa und fügt hinzu: "Sobald die Leute verschleierte Tuareg sehen, bekommen sie es mit der Angst zu tun."

Für die Bevölkerung im Süden Libyens stellen nicht Islamisten, sondern Kriminalität und Gefechte zwischen Drogenbanden das größte Problem dar. "In der Wüste gilt das Gesetz des Stärkeren, aber in unseren Ortschaften ist es in der Regel sicher, da man sich untereinander kennt", meinen einige Leute aus Ghat.

Eine angespannte Sicherheitslage

Niemand hier bestreitet jedoch, dass die Sicherheitslage insgesamt katastrophal ist und dass die libyschen Behörden keinerlei Kontrolle über die Grenzregionen haben. Der Bürgermeister von Ghat, Mohamed Abdelkader, redet nicht um den heißen Brei herum. "Die Grenzen sind sperrangelweit offen! Drogen und Waffen strömen ein und aus und die Armee hat gar nicht die Kapazitäten um Schmuggler und Extremisten zu fassen."

Eine Armee im üblichen Sinn gibt es in Libyen ohnehin nicht. Von Gaddafi schwach gehalten aus Angst vor einem Militärputsch, befinden sich die nationalen Streitkräfte seit dem Sturz des früheren Machthabers noch im Aufbau. Die Übergangsregierung beschloss Kampftruppen als Ganzes einzugliedern und somit Revolutionäre zu demobilisieren. Für die Kämpfer - meistens unausgebildete Jugendliche - brachte die Eingliederung Ansehen und Staatsgehälter. Doch gewachsen sind sie den Anforderungen kaum. "Für Grenzposten und Patrouillen gibt es nicht genügend Männer. In der Regel werden noch nicht einmal Pässe kontrolliert", berichtet Bürgermeister Mohamed Abdelkader.

Sicherheitsstrategien scheitern

Dem Staat mangelt es indes an Autorität. Denn trotz der neuen Logos und Insignien fühlen sich die Kämpfer weiterhin in erster Linie den Befehlen ihrer unmittelbaren Vorgesetzten und den Interessen ihres Stammes und ihrer Gemeinschaft verpflichtet. "Die Art und Weise wie die Armee gebildet wurde, war ein großer Fehler", sagt Barka Wardougou, Chef des Militärrats von Murzuk im Südwesten des Landes. "Anstatt selektiver Eingliederung hätte man auf einen Schlag zwölftausend junge Männer aus ganz Libyen zum Training nach Großbritannien schicken und danach gemischt im Land verteilen sollen. Nur so entstehen professionelle Streitkräfte."

Einem aktuellen Bericht des UN-Hochkommissars für Menschenrechte (UNCHR) und der UN-Mission in Libyen zufolge soll die Regierung ehemaligen Rebellengruppen auch die Führung von Gefängnissen überlassen haben, ohne sie dafür auszubilden.

As soon as people see Tuareg turbans they get scared, says tour guide Abishini Aissa. An army, in the conventional sense, does not exist in Libya, national security forces are still in the process of being built up

Doch auch Barka Wardougou selbst vertritt nicht nur den Staat, sondern zugleich die Interessen seines Volksstammes, der Tubu. Die Tubu sind bekannt für ihre grenzüberschreitenden Familienbande. Die meisten von ihnen leben im Tschad. Deshalb werden sie von der Mehrheit der Libyer als gefährliche Eindringlinge angesehen und sehen sich oft harscher Diskriminierung ausgesetzt.

Oberst Wardougou selbst hat sich jahrzehntelang an Rebellionen in der Sahelzone beteiligt - "immer auf der Seite der Unterdrückten", wie er behauptet. Einst war er sogar Anführer der sogenannten Sahel-Befreiungsarmee in Niger. Aus seiner Sicht ist die Regierung in Tripolis eine reine Farce, da radikale Kräfte aus dem Umkreis von Benghasi alle Fäden in der Hand halten.

Gerade hat er durch einen Anruf von der Ankunft einer Verstärkungstruppe aus dem Norden erfahren. "Schon wieder schicken sie Islamisten zu uns", sagt er. "Immer wollen sie uns in dem Glauben lassen, dass sie die Grenzregion zum Tschad und Niger im Griff haben. Dabei sind wir die Einzigen, die einigermaßen für Ordnung sorgen und Drogenschmuggler aufspüren. Aber bei den harten Bedingungen in der Wüste bleiben diese Einheiten eh nie lange."

Die Frustration lokaler Entscheidungsträger über die Zustände ist sichtbar. Nationale Sicherheitsstrategien, von denen in Tripolis gerne geredet wird, sind im Süden Libyens für sie nicht viel mehr Wert als Tinte auf Papier.

Valerie Stocker

© Deutsche Welle 2013

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de