"Helft uns, dem Frieden näherzukommen“
Herr Avneri, seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober und der brutalen Vergeltung des israelischen Militärs (IDF) kommen immer mehr Menschen zu den Treffen von "Standing Together“ – sowohl in Israel und Palästina als auch im Ausland. Wie lassen sich Menschen zusammenbringen? Welchen neuen Ansatz wünschen sich die Menschen?
Itamar Avneri: Die derzeitige Realität in Israel und Palästina ist grausam und schmerzhaft. Die Menschen suchen verzweifelt nach einem Funken Hoffnung. "Standing Together“ bietet diese Hoffnung. Aber wir sind alles andere als naiv. Grundlage unserer Hoffnung ist ein gemeinsamer politischer Kampf.
Wir sind noch immer überzeugt davon, dass ein israelisch-palästinensischer Frieden der einzige Weg ist, um allen, die hier leben, ein gutes Leben zu garantieren. Außerdem fordern wir Gleichberechtigung für alle palästinensischen Bürger in Israel.
Inmitten all der Angst, die uns umgibt, beweisen wir, dass Juden und Araber noch immer zusammenhalten und zusammen an gemeinsamen Zielen und einer gemeinsamen Vision arbeiten können. Das ist der Grund, weshalb die Menschen zu uns kommen.
Nur ein Friedensabkommen schafft Sicherheit
Welche Kritik wird "Standing Together“ entgegengebracht?
Avneri: Wir erhalten immer Kritik und Drohungen, wenn es Krieg oder Gewalt zwischen Israel und Palästinensern gibt. Einige nennen uns "Verräter“, andere sagen, wir seien naiv oder meinen, wir würden nicht verstehen, dass Juden und Araber niemals in Frieden miteinander leben können. Und ja, einige Menschen wünschen uns auch den Tod.
Aber wir arbeiten jeden Tag zusammen, Juden und Araber, und wir wissen, dass es keinen Grund gibt aufzuhören, auch wenn die Dinge sehr schwierig sind. Unsere Geschichte zeigt, dass nur ein Friedensabkommen unsere Sicherheit garantieren kann. Also kämpfen wir weiter, selbst wenn wir Todesdrohungen bekommen.
Wie wichtig ist es, dass die Menschen auch in schwierigen Zeiten wie diesen zusammenstehen und wie ist das überhaupt möglich?
Avneri: Es ist nicht nur wichtig, es ist unerlässlich. Während eines anderen Gaza-Krieges vor zwei Jahren kam es in Israel zu viel Gewalt zwischen Juden und Arabern. Das waren schreckliche Tage. Wir müssen zusammenarbeiten, um zu verhindern, dass so etwas noch einmal geschieht. Und wenn wir wollen, dass der ewige Krieg, in dem wir uns befinden, endet, ist es umso unerlässlicher.
Das ist natürlich leichter gesagt als getan. Wir können das heute nur tun, weil wir unsere Bewegung seit Jahren aufgebaut haben und heute über die nötige Infrastruktur und, was noch wichtiger ist, das nötige Vertrauen verfügen.
Wenn neue Leute zu uns kommen, erklären wir ihnen, dass Zusammenarbeiten nicht bedeutet, etwas aufzugeben – im Gegenteil. Wir zeigen ihnen, dass die Mehrheit der Araber und Juden dieselben Interessen hat. Sobald sie das begreifen, ist es viel leichter, zusammenzuarbeiten.
Sie sind eine Graswurzelbewegung – wie können beide Völker praktisch zusammenarbeiten, um Hass, Vorurteile und Angst zu überwinden?
Avneri: Das "Geheimnis“ unserer Arbeit besteht darin, einander kennenzulernen. Wir bauen Vertrauen auf, wenn wir uns trauen, einander zuzuhören und etwas über die Narrative und Erfahrungen des Anderen zu erfahren. Aber es geht noch weiter. Wir müssen hinausgehen an die Öffentlichkeit und zusammenarbeiten. Es gibt nichts, was Menschen mehr verbindet. Dann stehen Menschen, die für dieselben Werte und für dieselbe Sache kämpfen, zusammen, auch wenn es schwer ist.
Auch in Deutschland ist die Stimmung emotional aufgeladen und polarisiert. Außenministerin Annalena Baerbock war lange gegen einen Waffenstillstand, viele Medien stehen in der Kritik, der offiziellen Berichterstattung Israels unkritisch gegenüberzustehen. Gleichzeitig fühlen sich viele Muslime vor dem Hintergrund eines generellen Rechtsrucks in Politik und Gesellschaft unter Generalverdacht, während viele in Deutschland lebende Juden Angst haben.
Vor diesem Hintergrund die Frage: Welcher Ansatz oder welches Verständnis ist aus Ihrer Erfahrung nötig, um in Dialog und in einen offenen Diskurs zu treten?
Avneri: Wir müssen Vertrauen zwischen den Menschen aufbauen. Die Herausforderung liegt darin, Menschen davon zu überzeugen, dass die Realität kein Nullsummenspiel ist. Sie ist das Gegenteil davon.
Wenn Palästinenser ein besseres Leben haben, dann geht es auch Juden besser und umgekehrt. Es ist niemals leicht, eine Atmosphäre von Verständnis und Vertrauen aufzubauen, aber die Ängste, Narrative und Bedürfnisse der Anderen anzuerkennen, ist schon mal ein guter Anfang.
Sind Deutschland und Europa hilfreich?
Was fordern Sie von Deutschland und den anderen europäischen Ländern?
Avneri: Es gibt ein paar fundamentale Wahrheiten, die alle begreifen müssen. Erstens: Niemand geht irgendwo hin. Weder gehen Millionen von Palästinensern woanders hin noch Millionen von jüdischen Menschen. Zweitens: Folglich ist die einzige Lösung für die Situation ein israelisch-palästinensischer Frieden.
Und drittens: Frieden bleibt unmöglich ohne die Unterstützung von Israelis und Palästinensern. Also lautet unsere Forderung: Fragt euch, ob ihr uns dabei helft, unsere Völker davon zu überzeugen, sich in Richtung Frieden zu bewegen. Wenn nicht hilfreich ist, was ihr tut, dann hört auf damit.
Was ist Ihre Zukunftsvision für Israel und Palästina?
Avneri: Ich bin überzeugt davon, dass wir am Ende in Frieden leben werden, mit einem unabhängigen palästinensischen Staat neben Israel. Die einzige Frage ist, wie viele Menschen noch sterben und leiden müssen, bis es so weit ist.
© Qantara.de 2023
Itamar Avneri ist Gründungsmitglied der 2015 in Israel gegründeten Organisation “Standing Together”