Syriens verschüttete Klangwelten

In den Jahren vor Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges machte sich ein amerikanischer Punkrocker daran, einzigartige Gesänge in einer syrisch-orthodoxen Kirche in Aleppo einzufangen und zu dokumentieren. Von Marian Brehmer

Von Marian Brehmer

Für jemanden, der sich an die Flut von Katastrophenbildern aus Syrien gewöhnt hat, ist es schwer vorstellbar, dass Syrien einmal ganz anders ausgesehen haben könnte. Nicht nur das – Syrien war ein Land, in dem verschiedene Communities in gegenseitigem Respekt zusammenlebten und ein buntes Kultur- und Religionsmosaik bildeten. Bevor Glaube sie entzweien konnte, betonten Syrer stets, dass sie miteinander die gleiche Kultur teilen.

Als Jason Hamacher 2006 zum ersten Mal nach Syrien fuhr, hatten Proteste um die dänischen Mohammed-Karikaturen das Land erschüttert. Als er in Syrien ankam, sah der amerikanische Musiker und Fotograf eine Ansprache des Erzbischofs der syrisch-orthodoxen Kirche und des Großmuftis von Syrien im Fernsehen, die sich zusammengetan hatten, um die Menschen zu Ruhe zu aufzurufen.

Später erfuhr Hamacher, dass die beiden religiösen Führer seit mehr als dreißig Jahren miteinander befreundet waren. "Da habe ich verstanden, dass es in Syrien eine viel nuanciertere interreligiöse Dynamik gibt als wir im Westen glauben", sagt Hamacher.

Ein Punkrocker in Syrien

Mit großer Wahrscheinlichkeit ist Hamacher der letzte, der ein kulturelles Archiv aus Tonaufnahmen, Fotos und Videos zusammengestellt hat, das Syrien so zeigt wie es einmal war. Der 39-Jährige ist jedoch kein Anthropologe, sondern ein Punkrock-Schlagzeuger. Nach zwei Jahrzehnten in Bands der amerikanischen Punk-Szene reiste Hamacher in die Südosttürkei und las William Dalrymples Buch "From the Holy Mountain".

Buchcover "From the Holy Mountain"
Faszination "From the Holy Mountain": Aufgewachsen als Kind eines Pastors, war Hamacher besonders von Dalrymples Beschreibung einer syrischen Kirche gefesselt, in der nach wie vor Gesänge aus den ersten Jahren des Christentums rezitiert werden.

Aufgewachsen als Kind eines Pastors, war Hamacher besonders von Dalrymples Beschreibung einer syrischen Kirche gefesselt, in der nach wie vor Gesänge aus den ersten Jahren des Christentums rezitiert werden. Als er den britischen Autor nach Aufnahmen dieser Gesänge fragte, erhielt er die Adresse der Kirche in Aleppo. Einige Tage später sprach Hamacher mit dem Erzbischof der syrisch-orthodoxen Kirche in Amerika, der ihm mitteilte, dass bisher niemand professionelle Aufnahmen dieser Lieder gemacht hatte.

"Ich fragte den Bischof direkt, ob ich Aufnahmen machen könnte", erzählt Hamacher. Nachdem er das Projekt der syrischen Botschaft vorgestellt hatte, machte er sich nach Syrien auf. Bis zum Jahr 2010 kehrte er mehrmals nach Syrien zurück und baute eine tiefe Verbindung zu den Menschen auf. "Die große Gastfreundschaft in Syrien hat mein Herz sehr berührt. Es war überwältigend, wie selbstverständlich mich die Menschen in ihr Leben aufgenommen haben", sagt Hamacher.

Hamachers Aufnahmen in der syrisch-orthodoxen Kirche beinhalten Gesänge, die auf das Jahr 190 zurückgehen. Die Kirche in Aleppo ist eine der wenigen Kirchen wo dieser besondere Gesangsstil namens "Stil von Edessa" (das heutige Urfa) immer noch praktiziert wird. Die Lieder sind Teil der täglichen Liturgie und werden auf Altsyrisch rezitiert, ein Dialekt des Aramäischen. "Es war eine lebensverändernde Erfahrung für mich, als ich zum ersten Mal ein aramäisches Gebet in einem syrischen Kloster in der Türkei hörte", sagt Hamacher.

Aleppos Sufi-Traditionen wiederbeleben

In Aleppo nahm Hamacher auch aramäische und chaldäische Gesänge auf. Nachdem er die meiste Zeit mit Christen verbracht hatte, wollte er mehr über die diversen islamischen Traditionen lernen.

Er kam in Kontakt mit dem "Nawa"-Sufi-Ensemble, einer Gruppe von Musikern, die sich im Innenhof eines 500 Jahre alten Hauses neben dem Suk von Aleppo trafen. Einige von ihnen waren Mitglieder eines traditionellen Sufiordens, andere professionelle Musiker.

Ihr Ziel war es, die alten Sufitraditionen von Aleppo im 21. Jahrhundert zum Leben zu erwecken. Ihre Gesänge, die Hamacher auf seinem ersten Album "Nawa" veröffentlichte, sind typisch für Aleppo und waren genauso wie die syrisch-orthodoxen Lieder noch nie aufgezeichnet worden.

"Als Künstler hatte ich zu den verschiedenen Communities einen ganz anderen Zugang als Akademiker oder Journalisten. Ich baute über Kunst, Schönheit und Geschichten Kontakt zu ihnen auf. Ich habe versucht, eine Brücke zwischen der Syrien-Forschung und den Menschen zuhause zu schlagen, die kein Interesse an diesem Teil der Welt haben", sagt Hamacher.

Als 2011 der Bürgerkrieg ausbrach, stellte Hamacher alle seine Syrien-Projekte ein. "Ich wollte nicht den Eindruck erwecken, dass ich den Krieg für meine Arbeit nutze", sagt Hamacher. Als der Krieg Aleppo erreichte, änderte er seine Einstellung. "Man fragte mich: 'Du warst in Aleppo – sieht es also so dort aus?' Da wusste ich, dass ich zeigen musste, wie Syrien einmal war."

So begann Jason Hamacher, die gesammelten Aufnahmen unter dem Label "Lost Origin Sound" zu veröffentlichen. Er wurde sich bewusst, dass er wohl der einzige Mensch war, der bis wenige Wochen vor Kriegsausbruch so viel kulturelles Material zusammengetragen hatte. Viele der Traditionen, die im "Lost Origin Sound"-Projekt auftauchen galten bereits vor dem Krieg als vom Aussterben bedroht.

Eine Frage der Verantwortung

Hamachers Alben fanden weltweite Medienresonanz. Nun verspürt er eine Verantwortung gegenüber seinen Freunden in Syrien, das Land zu repräsentieren, das er kennenlernte – aus kultureller Perspektive, nicht aus politischer.

Gegenwärtig unternimmt er Vortragsreisen durch die USA und Europa. Außerdem arbeitet er an einem Fotoband zur Stadt Aleppo, die durch den anhaltenden Konflikt im Begriff ist, ihr gesamtes Kulturerbe zu verlieren. Der Erzbischof, den Hamacher in Aleppo besuchte, wurde 2013 von Terroristen entführt. Einige der Menschen, mit denen Hamacher in Syrien zusammenarbeitete, sind inzwischen tot.

Schon jetzt hat Hamacher Anfragen diverser kultureller Organisationen erhalten, die Zugang zu seinem Archiv wünschen, um den Wiederaufbau Syriens zu planen. Ist das Wunschdenken?

Hamacher will jedenfalls die Hoffnung nicht aufgeben: "Wenn die Menschen von Dresden heute in ihrer Stadt leben und lachen können, dann kann dies auch für Aleppo möglich sein. Ich würde liebend gerne eines Tages zurückkehren und meinen Kindern diese Stadt zeigen."

Marian Brehmer

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