Wüstenmärchen
Der syrische Aufstand war im ersten Jahr und noch kein Bürgerkrieg, als Amina Arraf zu bloggen begann. Es war der Februar 2011, Amina Arraf lebte in Damaskus. Eine Lesbe, die bloggt. Schonungslos, eindringlich, witzig: Über ihr Sexleben, den Freiheitskampf der Opposition, den Koran, syrische Geschichte. "Grenzen bedeuten nichts, wenn Du Flügel hast", schrieb sie. Solche Sachen.
Im Mai bat sie die Lesben-Aktivistin Minal Hajratwala, die für ihr Buch "Leaving India" einen Preis für "bisexuelle Literatur" bekommen hatte, auch das englischsprachige Werk von ihr, der in Amerika geborenen Syrerin, einem Verleger vorzustellen. Die Anhängerschaft für Aminas Blog wuchs, auch das Medieninteresse. Washington Post und CNN, Bild und taz berichteten.
Im Juni 2011 wurde sie verhaftet. Der britische Guardian berichtet, als sei er selbst zugegen gewesen, Amina sei auf einer Straße in Damaskus von Bewaffneten in ein Auto gezerrt worden. Und er druckte ein Foto der jungen Frau. Menschenrechtsorganisationen forderten per Facebook "Freiheit für Amina Arraf". Das US-Außenministerium leitete eine Untersuchung ein, der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Markus Löning, protestierte. Aber da war Aminas Schicksal bereits besiegelt.
Leicht zu betrügen
Denn nicht nur danach, sondern auch davor hatte niemand Amina Arraf je gesehen. Die lesbische Bloggerin aus Damaskus, so stellte sich heraus, war ein Geschöpf von Tom MacMaster, einem 40 Jahre alten Amerikaner, der in Schottland lebte. Er war über Jahre im Internet als Amina Arraf aufgetreten. Das Bild der jungen Frau im Guardian war eine Kroatin aus London, deren Foto MacMaster einer Facebook-Seite entnommen hatte. Sie hatte sich gemeldet: Sie sei keine lesbische Bloggerin.
MacMaster schwor, er habe sich dem Nahen Osten stets verbunden gefühlt, die Erfindung Aminas sei der Versuch gewesen, die Aufmerksamkeit der Welt auf das syrische Freiheitsringen zu lenken. Blogger, syrische Oppositionelle, Schwule und Lesben waren empört: Wer würde dem nächsten Blog noch glauben? Auch einige Medien gingen in sich, analysierten die Leichtigkeit, mit der sie sich hatten betrügen lassen.
Unwiderstehliche Zutaten
"Aminagate" war, so die Erkenntnis, eine Verbindung vermeintlich unwiderstehlicher Zutaten. Etwa der unterdrückte Blogger. "Westliche Journalisten lieben es, über Blogger in autoritären Staaten zu berichten, die unermüdlich über die Probleme ihrer Regierung berichten", schrieb der weißrussische Publizist und Internet-Skeptiker Evgeny Morozov: Der Blog gelte als mächtiges Werkzeug gegen ruchlose Regime, dabei sei beispielsweise im Nahen Osten die Mehrzahl der Blogger regierungsnah und oft weit radikaler in Frauen- oder Minderheitenrechtsfragen als ihre Regierungen.
Die vermeintlich demokratische Natur der Online-Kommunikation - ein Fake. Dazu kam der fast unerreichbare Schauplatz im aufgewühlten Syrien, die Zugänglichkeit der Texte - Amina schrieb auf englisch -, und die Wertegemeinschaft. Eine bloggende syrische Lesbe - das war der denkbar einsamste Außenseiter, eine Pionierin des westlichen Pluralismus in einer islamischen Gesellschaft.
Der Nahe Osten ist ein fruchtbarer Boden für Verschwörungstheorien, Propaganda und moderne Märchen. Für Journalisten ist es unmöglich, jede gezielte Desinformation zu durchschauen, jede Behauptung zu prüfen. Selbst Bilder sind kein Beweis. Im Sommer verbreiteten die ägyptischen Islamisten Fotos von getöteten Kindern, nachdem es zu Zusammenstößen mit Sicherheitskräften gekommen war. Die Aufnahmen stammten aus Syrien.
Umgekehrt wirken manche Berichte zu gut, um wahr zu sein - und sind es doch. Im Frühjahr 2012 beispielsweise las die fassungslose Öffentlichkeit die E-Mail-Korrespondenz zwischen dem syrischen Präsidenten Baschar al-Assad und seiner Frau Asma. Assad, der sich "Sam" nannte, schickte seiner Frau Countrysongs. Diese wiederum erwies sich als qualitätsbewusste Einkäuferin im Internet, gab ein Vermögen aus für Möbel, Schmuck, Louboutin-Stilettos oder ein Schokoladen-Fondue. Das Präsidentenpaar in Totalverleugnung des Aufruhrs, bedröhnt durch Trallala und Glitzerkram, das klang wie eine Fantasie der Aufständischen. Aber es stimmte.
Teil einer Massenhysterie
Ähnlich wüst klangen die Anschuldigungen gegen den libyschen Diktator Gaddafi - und stimmten nicht. Während des Krieges, hieß es, verübten seine Viagra-konsumierenden Soldaten Massenvergewaltigungen. Jedenfalls verbreitete sich die Nachricht von Al-Jazeera über westliche Medien bis zum Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofes, Luis Moreno-Ocampo, der insistierte, "Viagra ist ein Mittel für zahlreiche Vergewaltigungen".Allerdings rückte Scherif Bassiuni, UN-Ermittler in Menschenrechtsfragen, das Ganze im Juni 2011 zurecht: Die Viagra-Geschichte sei Teil einer "Massenhysterie". Er verwies auf eine Aktivistin, die angegeben hatte, sie habe 70.000 Fragebögen verschickt und 60.000 Antworten bekommen, in denen von 259 sexuellen Missbrauchsfällen die Rede war. Wie die Post dies in einem Land im Kriegszustand fertiggebracht hatte, blieb offen. Bassiuni forderte die Fragebögen an - und erhielt sie nie.
Sex, Islam und Krieg, das bleibt ein fast sicherer Köder für die Medien. Zuletzt nutzte dies der tunesische Innenminister Lotfi bin Dschido, als er im September eine haarsträubende Kunde tat: Junge Frauen aus Tunesien reisen in Scharen nach Syrien, um den unterversorgten Dschihadisten dort zu Willen zu sein, in einem "sexuellen Dschihad".
Opfer des Sex-Dschihad
"Tunesische Mädchen werden zwischen 20, 30 und 100 Rebellen getauscht und kommen zurück mit der Frucht dieser sexuellen Kontakte im Namen des sexuellen Dschihad", sagte er. Die Geschichte verbreitete sich lawinenartig, Time, Huffington Post, AFP, auch die Bild ergingen sich in haarsträubenden Berichten.
Nur: Es gibt für die massenhaften Sex-Dschihad nur sehr, sehr wenige Beweise. Das syrische Staatsfernsehen führte die 16-jährige Rawan Kadah vor, die von Orgien mit den Radikalen berichtete. In Wahrheit war sie verschleppt worden, weil ihr Vater, ein Oppositioneller, nicht greifbar war.
Reporter brachen nach Tunesien auf, um die Opfer des Sex-Dschihad zu suchen und fanden keine. Plötzlich spielten andere Überlegungen eine Rolle, strategische, politische: Tunesien schlägt sich ebenfalls mit den Hardcore-Islamisten herum, die sich gern mal als rein und tugendhaft geben. Dass ausgerechnet aus ihren Reihen fromme Jungfrauen in Scharen zu Orgien geschickt wurden, wäre ein herber Schlag für ihre Glaubwürdigkeit gewesen.
In jedem Fall hatte die Kombination von Islam, Sex und Krieg erneut gewirkt.
Sonja Zekri
© Süddeutsche Zeitung 2013
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de