Im Kreuzfeuer der politischen Rivalen
"Mit verbundenen Augen wurde ich mit Schlägen und Anschuldigungen überschüttet: Ich sei gegen die Revolution, ich sei ein Säkularer, Liberaler und Atheist. Sie drohten damit, mich zu vergewaltigen und umzubringen", erzählt Salah Ingab von seiner Entführung in Tripolis.
Der politische Kommentator und Herausgeber eines Magazins war vor Kurzem mehrere Stunden lang in der Gewalt Bewaffneter, die – wie er meint – im Auftrag der Kräfte handelten, die derzeit die libysche Hauptstadt Tripolis kontrollieren. Die Botschaft, die sie er an andere weiterzugeben hatte, lautete: "An die Aktivisten: Verlasst die Stadt! – und an den Rest der Bevölkerung: Bewahrt Ruhe!"
Dies ist kein Einzelfall. Die Organisation "Reporter ohne Grenzen" hat seit 2011 sieben Mordfälle, 37 Entführungen und 127 Angriffe auf Journalisten in Libyen registriert. Das nordafrikanische Land befindet sich über drei Jahre nach dem Ende Muammar al-Gaddafis in einer Sackgasse.
Der einstige Diktator hinterließ ein Machtvakuum, aus dem sich zwei politische Lager herauskristallisiert hatten – ein islamistisch geprägtes und ein eher säkulares. Deren Anführer unter den Stämmen, Ortschaften sowie die von der Revolution übriggebliebenen Milizen schmiedeten breite Allianzen und verwandelten ganz Libyen in ein einziges Krisengebiet. Während die Transition zunehmend stagniert, prägen immer mehr Hassreden unerfahrener Politiker die öffentliche Debatte. Diese beschuldigen einander, radikale Islamisten beziehungsweise Azlam (Gaddafi-Anhänger) zu sein.
Nichts als Gaddafi-TV
Mit Wehmut erinnert man sich an die Aufbruchsstimmung Ende 2011. Nach 40 Jahren Alleinherrschaft nahmen die Libyer die in der Revolution eingeforderte Meinungs- und Pressefreiheit mit Begeisterung auf. "Zuvor hatte es keine Privatsender gegeben, nur Gaddafi-TV" sagt Abdelhamid al-Amruni, Journalist aus Bengasi. So wie er haben viele junge Leute den Beruf "an der Front" erlernt.
Innerhalb kürzester Zeit entstanden unzählige Zeitungen, Onlinemagazine, Radio- und Fernsehstationen in denen die Zukunft des Landes heiß debattiert wurde.
Die mangelnde Trennung von sozialen Netzwerken und Medien macht es jedoch schwierig, den Informationswert einer Meldung zu beurteilen und Objektives von Meinungsartikeln zu unterscheiden. Besonders problematisch ist die Verbindung von Propaganda und Nachrichten, die daraus erfolgt, dass Politiker und Kriegsherren ihre eigenen Sender gründen und mit allen Mitteln gegen die ihrer Gegner vorgehen. Zur Regel geworden ist es beispielsweise, dass Schlägertrupps in Reaktion auf brisante Berichte Nachrichtensender verwüsten und Redakteure entführen.
Seit Beginn des Jahres überstürzen sich die Ereignisse. In Bengasi führt Ex-General Khalifa Haftar, unterstützt von einem Teil der Armee, seit Mai einen Feldzug ("Operation Würde" genannt) gegen eine Milizenkoalition, die von der radikal-islamistischen Gruppe Ansar al-Sharia dominiert wird.
In Tripolis hatte im August eine Allianz islamistisch-revolutionärer Kräfte unter der Führung der Hafenstadt Misrata und dem Motto "Morgendämmerung Libyens" die Macht ergriffen und ihre eigene Regierung gebildet. Derweil harrt das im Sommer gewählte und international anerkannte Parlament tausend Kilometer weiter östlich in der Ortschaft Tobruk aus und wartet auf den Sieg Haftars.
Trennlinien in der Medienlandschaft
Die Trennlinien der Politik setzen sich in den Medien fort, sodass jede Nachrichtenquelle als entweder islamistisch-revolutionär oder säkular-reaktionär eingestuft wird. Dieses Problem kennt Khairi Ibrahim aus Tripolis nur allzu gut. Er ist Reporter beim privaten Sender Al-Nabaa TV, der von einem bekannten islamistischen Gaddafi-Gegner gegründet wurde und nun als Sprachrohr der "Morgendämmerungs-Allianz" gilt. "Meine Kollegen und ich versuchen durch ausgewogene Berichterstattung die Vorurteile abzubauen, aber es wird viel Falsches über den Sender behauptet und das macht unsere Feldarbeit gefährlich", meint er. "Zuvor waren wir in ganz Libyen präsent, jetzt nur noch im Westen des Landes. Die derzeitige Krise hat dazu geführt, dass viele aus Angst ihren Job gekündigt haben."
"Die Situation in West- und Ostlibyen unterscheidet sich wesentlich", erklärt Abdelhamid al-Amruni. „Während es in Westlibyen sehr viel kleinere Übergriffe gibt, enden die Zusammenstöße in Bengasi oder Derna meist tödlich". Journalisten geraten dabei nicht nur zunehmend ins Visier der rivalisierenden Gruppen, sondern erhalten auch Drohbotschaften. So auch Al-Amruni. "Ein Web-User mit dem Decknamen 'Zorro' schickte mir Fotos von mir zu und eine Warnung: 'Unterlasse in Zukunft Kommentare zu den Ansar al-Sharia!' Kurze Zeit später wurde mein Auto zertrümmert. Von da an wusste ich, dass ich gehen muss."
Auch Salah Ingab hebt den Unterschied zwischen West und Ost hervor: "Jene Kräfte, die mich in Tripolis entführt haben, waren keine Radikalen. Wäre ich von den Ansar al-Sharia gefangen genommen worden, hätte ich wohl nie wieder das Tageslicht erblickt. Es ging nicht um Religion, sondern um Politik. Ich bin gegen die Muslimbruderschaft und ein bekannter Aktivist."
Ingab hält seine Freilassung dennoch für einen Glücksfall. Aus Angst vor weiteren Maßnahmen ließ Ingab Frau und Kind bei den Eltern und zog in ein Studentenwohnheim. Doch auch dort fühlte er sich nicht sicher und entschloss sich daher, nach Tunesien auszureisen. "Wer weiß, was passiert. Und was wird aus mir, wenn die Allianz zwischen den Ortschaften zusammenbricht?"
"Du kostest uns nur eine Kugel"
Seine Entführer hätten ihn gewarnt: "Dein Name ist an allen Grenzübergängen registriert. Versuchst Du zu fliehen, kostest Du uns nur eine Kugel." Doch wieder hatte er Glück. "Der Grenzoffizier an jenem Morgen war ein entfernter Verwandter von mir. Er sagte: 'Gott beschütze Dich!' und stempelte meinen Pass ab."
Bereits vor der aktuellen Krise zeichnete sich die Einschränkung der Meinungsfreiheit in Libyen immer deutlicher ab. Im vergangenen Februar warnte Amnesty International, dass zu diesem Zweck Gesetze der Gaddafi-Zeit bemüht würden. Als Straftaten gelten seither beispielsweise die "Beleidigung des Parlaments, der Regierung, der Justizbehörden und der Symbole des Staates" sowie "jegliche Aktivitäten, die der Revolution des 17. Februars Schaden zufügen könnten".
In jenen Landesteilen, die sich fest in der Hand eines politischen Lagers befinden, ist eine allmähliche Gleichschaltung der Medien zu befürchten. Der jüngste Beweis dafür kam in Form eines Schreibens des Außenministeriums in Tripolis (derzeit geleitet von der "Morgendämmerungs-Allianz") an eine Korrespondentin des französischen Nachrichtensenders France24.
In einer kaum verhüllten Drohung bezichtigt der Brief sie der tendenziösen Berichterstattung und warnt vor "drohenden Reaktionen vieler wütender Bürger". Einer der Vorwürfe lautet, sie habe die Machthaber in der Hauptstadt nicht bei ihrem richtigen Namen genannt, nämlich die "Regierung zur Rettung Libyens".
"Libyens neu errungene Pressefreiheit droht kläglich zu scheitern, sollten die selbsternannten Behörden in Tripolis lokale und internationale Journalisten daran hindern, ihre Arbeit auszuüben", befürchtet daher auch Hanan Saleh, Libyen-Berichterstatterin bei Human Rights Watch.
Valerie Stocker
© Qantara.de 2014