Abkehr vom fernen Feind
Anfang des Jahres beklagten sich Vertreter spendenfinanzierter Forschungszentren, die sich mit Terrorismus beschäftigen, über schwindende Ressourcen. Die Bedrohung durch al-Qaida, so offensichtlich die Einschätzung geneigter Geldgeber, war nicht mehr die gleiche wie vor drei oder vier Jahren – und damit auch der Bedarf an intensiver wissenschaftlicher Beschäftigung mit diesem Phänomen nicht mehr gegeben. Dann kam der Anschlag von Boston im vergangenen April, verübt von zwei in den USA lebenden Tschetschenen, bei dem drei Menschen starben und Hunderte verletzt wurden. Seitdem fließt das Geld wieder.
Vor kurzem dann veröffentlichten die USA eine Terrorwarnung, die für große Teile der Welt galt: Ayman al-Zawahiri, langjähriger Weggefährte Osama Ladens und jetziger Führer von al-Qaida, habe mit Anschlägen auf westliche Einrichtungen gedroht. Über 20 amerikanische Botschaften wurden geschlossen. Die Bundesregierung tat das gleiche im Jemen.
Zäsur in der Geschichte al-Qaidas
Angesichts dessen stellt sich die Frage: Wie gefährlich ist al-Qaida heute? Was hat sich seit dem Tod ihres Gründers Osama bin Laden vor zwei Jahren verändert? Es gibt zig internationale Terrorexperten, manche übertreiben die Gefahr, die wenigsten tun das Gegenteil. Zu den renommiertesten deutschen Terrorexperten gehören Peter Neumann, Leiter des "International Center for the Study of Radicalisation and Political Violence" am King's College in London sowie Guido Steinberg, wissenschaftlicher Referent bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Beide betrachten die jetzige Phase als eine Art Zäsur in der Geschichte al-Qaidas.
Der entscheidende Punkt ist, dass es wohl keine Zentrale mehr gibt, die die Autorität hätte, Anordnungen an ihre Zweigstellen zu verteilen. Für den Westen ist das eine gute Nachricht: Sowohl Neumann wie Steinberg schätzen die Gefahr massiver Terroranschläge auf amerikanischem oder europäischem Boden für ziemlich gering ein.
"Dass so etwas wie der 11. September noch einmal passiert, halte ich für fast ausgeschlossen", meint Guido Steinberg. Denn Anschläge von solchen Ausmaßes erfordern eine gewisse Logistik: Die Terroristen müssen ausgebildet werden, und dafür braucht man Trainingslager. Vor dem 11. September 2001 befanden sich diese Lager in Afghanistan, danach in dem unwegsamen afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet Waziristan. Außerdem erfordern solche Operationen Geld.
Doch weder das eine noch das andere ist weiter vorhanden. Die USA haben durch erbarmungslose Drohnenangriffe die Terrorinfrastruktur in Waziristan zerstört. Fast sämtliche Führer der alten al-Qaida-Riege sind mittlerweile tot oder in Gefangenschaft, die Trainingslager geschlossen. Keine Führung bedeutet aber auch: kein Geld. Willige Terrorfinanziers zum Beispiel aus den Golfstaaten wissen nicht, wohin sie ihre Spenden schicken sollen.
Denn Sie wissen, was zu tun ist
All das heißt jedoch nicht, dass al-Qaida tot wäre. Nur konzentrieren sich Dschihad-Salafisten wieder auf lokale und regionale Konflikte, statt den "fernen Feind", nämlich vor allen Dingen die USA, anzugreifen. Manche dieser Dschihad-Salafisten wollen möglicherweise gar nicht mehr mit al-Qaida in Verbindung gebracht werden – weil sie genau wissen, dass sie dann in den Fokus amerikanischer Anti-Terrormaßnahmen gerieten. Außerdem brauchen sie gar nicht mehr die Anweisung einer Zentrale – sie wissen auch so, was zu tun ist.
Zum Beispiel in Syrien, dem neuen Zentrum des Dschihadismus, dem neuen Anziehungspunkt für internationale Mudschahedin. Dort kämpfen Dschihadisten darum, bestimmte Gebiete zu erobern und zu kontrollieren. "Sie wollen gar nicht die Herrschaft über das ganze Land", so Peter Neumann, "es reicht ihnen, in bestimmten, kleinen Gebieten das Sagen zu haben."
Neben Syrien gibt es andere Konfliktzonen, wo sich al-Qaida und ähnliche Gruppierungen Freiräume schaffen können. Dazu gehört Somalia, in gewisser Weise auch Mali, wo Dschihadisten Anfang des Jahres noch große Gebiete kontrollierten. Mittlerweile sind sie aus Mali vertrieben, doch die Sahara ist groß. Mit Libyen haben sie ein Rückzugsgebiet, wo ihnen keine Verfolgung droht und von wo aus sie neue Angriffe starten können.
Kleine islamische Emirate
Die Soziologin Matenia Sirseloudi hat al-Qaida einmal – in bewusster Übertreibung – als "Parasiten des Krieges" bezeichnet: Sie bräuchten kriegerische Konflikte, auf die sie aufspringen könnten und wo sie die Gelegenheit hätten, ihre kämpferischen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Wie in Syrien bilden sie in diesen Ländern kleine "islamische Emirate", wo sie versuchen, ihre reaktionären Islamvorstellungen umzusetzen.
Nur der Jemen wird von Experten wie Peter Neumann und Guido Steinberg unterschiedlich eingeschätzt. Für Peter Neumann ist "Al-Qaida on the Arabian Peninsula", kurz AQAP, eine der letzten klassischen Zweigstellen der Organisation, denen es darum ginge, einen massiven Anschlag gegen den Westen zu verüben. Im Dezember 2009 zum Beispiel versuchte ein junger Nigerianer, sich in einem Flugzeug über Detroit in die Luft zu sprengen. Ausgebildet wurde er von der AQAP. "Aber das ist nun über drei Jahre her", so Guido Steinberg. "Seitdem hat es derartige Versuche nicht mehr gegeben." Die jemenitische al-Qaida bestünde fast ausschließlich aus Jemeniten und Saudis. Ihr Fokus sei auf die Arabische Halbinsel gerichtet.
Für den Westen klingt all das halbwegs beruhigend. Außer kleineren Anschlägen und Sabotageakten erwartet Guido Steinberg keine großen Terrorakte im Westen in naher Zukunft, Peter Neumann sieht das ähnlich. Für den Nahen Osten sieht die Zukunft allerdings nicht so rosig aus. Das Chaos in Ägypten, Libyen, Syrien, dem Irak und möglicherweise bald auch im Libanon eröffnet den Dschihad-Salafisten ungeahnte Möglichkeiten und Spielräume.
Der Arabische Frühling hat die Jahrzehnte alten Diktaturen im Nahen Osten hinweggefegt. Das waren aber auch diejenigen, die al-Qaida mit roher Gewalt im Zaume hielten. Man kann nur hoffen, dass die komplizierten Demokratisierungsprozesse in Ländern wie Ägypten nicht in den Bürgerkrieg führen, von dem Dschihad-Salafisten vom Schlage al-Qaidas gewiss profitieren würden.
Albrecht Metzger
© Qantara.de 2012
Albrecht Metzger ist Islamwissenschaftler und Publizist in Hamburg. Zuletzt erschien sein Buch: "Der Himmel ist für Gott, der Staat für uns – Islamismus zwischen Gewalt und Demokratie" im Lamuv-Verlag.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de