Troubadoure des alten und neuen Marokkos

Seit Jahrzehnten faszinieren Nass El Ghiwane mit ihrem eigenwilligen Stilmix aus Gnawa-Trancemusik und sozialen Protestsongs, so dass sie auch schon als "Beatles Marokkos" verehrt wurden. Andreas Kirchgäßner stellt die Band vor.

Von Andreas Kirchgäßner

Das Stadion in Agadir kocht. Langhaarige Jungs reißen sich die T-Shirts vom Leib, schwenken sie wie Fahnen im Rhythmus. Dicht gedrängt tanzen die Menschen, rücken gegen die Reihen der Soldaten und Polizisten vor, die sie zurückzudrängen suchen. Ein Mädchen schlüpft mutig durch das Spalier, springt zwischen die Musiker. Einen Augenblick tanzt sie mit ihnen, dann zerren die Ordner sie von der Bühne. Nach dem Schlussakkord aber gibt es kein Halten mehr. Jugendliche überrennen die Absperrung, reißen Instrumente um, fliegen den Musikern um den Hals. Noch beim Abgang von der Bühne stellt sich die rundliche Marokkanerin Larbi Batma in den Weg und wirft ihm ihr Tuch um den Hals…

Eindrücke aus den wilden 70er Jahren. Und tatsächlich sahen die marokkanischen Musiker mit ihren Pilzköpfen und in ihren engen Schlaghosen ganz wie die Rockstars von heute aus. Wer aber die Ohren aufsperrt, ist irritiert: kein E-Gitarren-Geheul, kein riesiges drum set. Die Instrumentierung war sparsam, manche Stücke wurden nur gesungen und von rhythmischem Klatschen begleitet.

Religiös und aufrührerisch zugleich

LP Nass El Ghiwane (Disque D'Or)
"Nicht zuletzt ist es Nass El Ghiwane zu verdanken, dass Gnawa-Musik heute in ganz Marokko einen Popstatus genießt", schreibt Kirchgäßner.

​​Dann wieder holten die Musiker traditionelle Instrumente hervor: die Harraz, die Bechertrommeln der Wandermusiker und Bettler, die beidseitig bespannte Trommel Tbila der Sufibruderschaften, Rahmentrommeln der Jilala und Aissawa und der Gembri, der Schlagbass der Gnawa-Musiker.

Tatsächlich spielten sie darauf die Musik der volkstümlichen Sufi-Bruderschaften, der Jilala, Hmadcha, vor allem aber die Trancemusik der Gnawa. Allerdings hatten sie neue Texte gedichtet, teils im Stil der religiösen Poesie des Sufismus, immer aber von mutiger Direktheit und sozialer Brisanz:

Im gebildeten Marokko der 1960er und 70er Jahre mit seinem kulturellen Zentrum Fes galt diese Musik als rückständig und primitiv. Denn nicht selten war sie Bestandteil von Geisterbeschwörungen, die der volkstümliche Islam als Heilungszeremonien entwickelt hat.

Aus den marokkanischen Radios ertönte stattdessen schwülstige Schmachtmusik oder der edle Klang von Zither und Geige. Da war es schon eine Sensation, dass vier Musiker auf traditionellen Instrumenten eigene Lieder und Texte spielten und damit bald die größten Säle und Stadien Marokkos füllten.

Die "Beatles Marokkos"

Im Juni 1971 spielten sie im Nationaltheater in Rabat als Vorgruppe des Rundfunkorchesters. Aber das Publikum ließ das Orchester mit seinem klassisch arabischen und westlich orientierten Repertoire nicht auf die Bühne und feierte stattdessen Nass El Ghiwane. Die marokkanische Presse bezeichnete sie daraufhin als die "Beatles Marokkos".

Ende der 1960er Jahre hatten sich die vier jungen Männer im Arbeiterviertel Hayy al-Mohammadi in Casablanca einer Theatergruppe angeschlossen und die sozialkritischen Stücke mit ihren traditionellen Instrumenten musikalisch begleitet. Auf Anhieb hatten sie einen solchen Erfolg, dass sie sich zur Musikgruppe "Nass El Ghiwane" formierten. Mit dem Banjo allerdings begann die Gruppe auch als erste in Marokko, die traditionelle Musik zu modernisieren.

"Ghiwane"-Musiker, nach denen Nass El Ghiwane sich benannten, waren die Troubadoure des alten Marokkos, Angehörige volkstümlicher Sufibruderschaften, die mit ihrem Gesang dem Volk die neusten Nachrichten, religiöse Botschaften und Unterhaltung brachten.

Nicht lange nach der Unabhängigkeit, inmitten schwerster wirtschaftlicher Krisen und härtester politischer Repressionen, mixte die Gruppe die volkstümliche Sufi-Musik mit eigenen Texten. Nass El Ghiwane wagte als erste marokkanische Gruppe, die Misere der Jugend und der Entrechteten, die staatliche Willkür und die allgegenwärtige Korruption anzuprangern:

"Oh, welch ein Wunder!
Unser Sommer ist zum Winter geworden ...
Die Tyrannei der Herrscher wird immer erdrückender
und ihr Despotismus grausamer."

(Auszug aus Nass El Ghiwane: "Subhan allah")

Sufimusik und arabischer Protest

Obwohl sie dem linksintellektuellen Studentenmilieu ihrer Zeit entstammten, trugen sie keine politischen Überzeugungen zur Schau, sondern besangen ihre Verzweifelung, die Aussichtslosigkeit, besangen die Verlorenheit des jungen Mannes, der vom Land in die Stadt kam.

Bandformation Paco El Ghiwane; Foto: Andreas Kirchgässner
Musikalisches Erbe: Pacos Sohn Youness Paco (zweiter von links) gründete mit seinem Bruder Yassine und dem Banjospieler Rachid (erster von links) die Gruppe "Paco El Ghiwane", die sich als Nachfolgeband der legendären "Nass El Ghiwane" versteht.

​​Mit der Sufimusik zelebrierten sie aber auch, was der westlichen Studentenbewegung abging, was aber bis heute untrennbarer Bestandteil eines jeden arabischen Protestes bleibt: eine religiöse Inbrunst, die sich an Allah um Hilfe wendet. Die Gnawa-Musik wiederum, das Erbe der schwarzafrikanischen Sklaven in Marokko, immer noch gespielt in der afrikanischen Pentatonik des Jazz, immer noch durchsetzt von fremden Worten aus dem Bambara und Wolof, spiegelte das Gefühl der Jugend, der Entrechteten und Verfolgten. Auch sie sahen sich als Sklaven der Repression.

1974 stieß der junge Gembri-Spieler Aberrahman Paco aus der traditionellen Gnawa-Hochburg Essaouira zu Nass El Ghiwane und verstärkte noch den Einfluss der schwarzafrikanischen Heilungs- und Trancemusik auf die Gruppe. So ist es nicht zuletzt Nass El Ghiwane zu verdanken, dass Gnawa-Musik heute in ganz Marokko einen Popstatus genießt.

Paco aber zog sich 1993, nach fast 20 Jahren, aus dem Rummel um Nass El Ghiwane zurück und wandte sich wieder seinen Wurzeln zu: dem Gnawa-Kult in Essaouira. Dort erlitt er vor ein paar Jahren einen Schlaganfall, der ihn seither ans Bett fesselt. Sein Erbe jedoch trat sein Sohn Youness Paco an, der schon als kleiner Junge mit Nass El Ghiwane gespielt hatte

Marokko und der Arabische Frühling

Ich treffe Youness in der Hafenstadt Essaouira, wo er mit seinem Bruder Yassine und dem Banjospieler Rachid aus Marrakesch die Gruppe "Paco El Ghiwane" gegründet hat. Aber es gibt nicht mehr die Studentenbewegung, sozialistische Modelle scheinen nachhaltig diskreditiert.

Allerdings zeigt sich die arabische Gesellschaft alles andere als gelähmt. Auf einmal organisieren Jugendliche sich in Internetforen, füllen sich die Straßen mit Menschen. Auch Marokko bleibt nicht verschont. Obwohl der junge König eilig Verfassungsreformen einleitete, begannen auch hier die Demonstrationen. Denn weiterhin bleibt der König unangefochtener Herrscher über Reich und Parlament, weiterhin blühen Amtsmissbrauch und Korruption auf allen Ebenen.

Ich dränge darauf, von den Musikern eine Stellungnahme zu den politischen Ereignissen des "Arabischen Frühlings" zu bekommen. Natürlich begrüßen sie Ben Alis Rücktritt, Mubaraks Absetzung, Gaddafis Beseitigung, den Aufstand gegen Assad in Syrien.

Doch auf die Entwicklung in Marokko, die "Bewegung des 20. Februar" angesprochen, reagiert Youness sehr zurückhaltend: Niemand will die Autorität von König Mohammed VI., der zugleich der religiöse Führer des Landes ist, in Frage stellen.

Das Problem in den Augen der Musiker ist die Korruption in der Riege der Berater und Parlamentarier. Deshalb gewinnt eine Bewegung wie die des "20. Februar", die mehr parlamentarische Demokratie einfordert, außerhalb der Wirtschaftsmetropole Casablanca kaum Anhänger. Stattdessen folgt auf jede kümmerliche Demonstration des "20. Februar" eine massive Gegendemonstration zur Unterstützung des Königs.

Rachid von Paco El Ghiwane; Foto: Andreas Kirchgäßner
Frustration über grassierende Korruption und miserable Arbeitsbedingungen für junge Künstler: Banjospieler Rachid von Paco El Ghiwane

​​Rachid aber, der in der Nacht aus Marrakesch kam, hat seine größte Müdigkeit mit ein paar flotten Banjo-Solis verscheucht und ist jetzt kaum noch zu bremsen. Seine ganze unbefriedigende Situation, als talentierter Musiker aufzehrende, schlecht bezahlte Jobs anzunehmen, kotzt ihn an. Natürlich gibt es in Marokko die Musiker, die gut von ihren Auftritten leben können.

Doch die verfügten über Beziehungen, die er, Rachid, nicht habe. Das sei die Korruption in Marokko: Ohne Beziehungen könne man als Künstler nur verhungern oder seinen Beruf an den Nagel hängen. Er spielt ein paar Läufe auf dem Banjo, um die düsteren Gedanken zu vertreiben. Die Texte Nass El Ghiwanes scheinen aktueller denn je:

"Oh ihr Gefängniswärter!
Öffnet die Tore der Gefängnisse...
Oh ihr Herrscher!
Hört auf mit eurer Barbarei."

(Auszug aus Nass El Ghiwane: "Al-Samta")

Andreas Kirchgäßner

© Qantara.de 2012

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de